Samstag, 3. April 2021

Klagelieder

Einführung zur Lesung der Klagelieder 

im ökumenischen Forum am Karsamstag 2021

Der Karsamstag ist von jeher ein stiller Tag, ohne liturgische Feier. In den Klöstern werden nur die Tagzeiten gebetet. Dazu gehört am Karsamstag auch die Lesung aus den Klageliedern, die in der Tradition dem Propheten Jeremias zugeschrieben werden – und zwar aufgrund der Einleitung, die man in der griechischen Übersetzung des Textes findet.

Dort heißt es (vgl. 2Chr 35,25): „Es geschah, nachdem Israel weggeführt war in Gefangenschaft und Juda zur Wüste geworden, da setzte sich der Prophet Jeremia weinend danieder; so klagte er über Jerusalem und sprach.“ 

Die Klagelieder bringen in vielfältiger Weise die Not, das Leid und den Schrecken der Eroberung und der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 v. Chr. zum Ausdruck. Neben der Stimme eines Einzelnen des Erzählers kommt in den Liedern die weiblich personifizierte Stadt Jerusalem beziehungsweise die Tochter Zion zu Wort, die wie eine klagende Frau der Bevölkerung ihre Stimme gibt.

Das Bekenntnis der eigenen Schuld und das Vertrauen auf Gott werden in den Klageliedern benannt, vor allem aber wird Gott selbst angeklagt. Wo angesichts von unermesslichem Leid theologische Erklärungen versagen, wird die Klage vorgetragen – mit einer festen, kunstvoll gestalteten poetischen Form.

Die Klagelieder wollen nicht Gott in Frage stellen, sondern sie wollen Gott die Frage stellen. In der Form des Gebets sprechen die Menschen Gott an, ihn der alles geschaffen hat und in seinen Händen hält – ist er nicht auch verantwortlich für das Böse und das Leid, das geschieht? Warum lässt er es zu?

Zu der Klage gehört im Angesicht Gottes auch der schonungslose Blick auf das eigene Volk, die eigene Gemeinschaft, die Schuld, das Versagen, die Fehler und Sünden der eigenen Glaubensgemeinschaft. Dabei geht es nicht um Rache oder Strafe. Der Beter ringt darum, Gottes Gerechtigkeit zu erkennen – und zugleich nicht aufzuhören, auf seine Zuwendung zu vertrauen.

Der Text der Klagelieder steht im Kontext des Alten Testaments. Für sich allein wäre er unverständlich. Wir Christen lesen ihn zudem mit den Texten des Neues Testaments am Karsamstag, nach der Erinnerung an den Tod Jesu am Kreuz. Die Klagelieder deuten das Leiden und Sterben Jesu. Seine Hingabe aus Liebe ist für uns die Antwort Gottes auf die Frage, die ihm in den Klageliedern gestellt wird. 

Es ist jedoch nicht so, dass Christen nun schon alles begriffen haben – und nicht mehr klagen dürften. Denn Gottes Antwort in Jesus Christus übersteigt unser Begreifen und lässt uns weiter fragen und klagen, allerdings auf eine andere Weise: Zusammen mit Christus, der am Kreuz fragt und klagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Braucht es also heute noch die Klagelieder? Gerade heute! Überall auf der Welt werden Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt. Viele Christen werden verfolgt: in Indien, in einigen afrikanischen Ländern, in Süd- und Ostasien. Seit mehr als 10 Jahren herrscht Krieg in Syrien, die Kinder leiden besonders.

Bei uns in Deutschland gibt es Schuld - in unserer Kirche und in unserer Gesellschaft, die zu Ungerechtigkeit führt. Die Pandemie verschärft diese Situation und bringt Leid über die Menschen. Der evangelische Ratsvorsitzende Bedford-Strohm spricht von der „Seeleninzidenz“, von den Auswirkungen der Pandemie auf das seelische Leben, das sich in psychischen Krankheiten und Gewalterfahrungen zeigt. 

Der Text der Klagelieder fordert uns heraus und er fordert Gott heraus. Es ist keine leichte Botschaft, keine Botschaft des lieben Gotts („der ist lieb, der tut nichts“). Es ist ein Text, der uns am Ende hoffentlich nicht sprachlos hinterlässt.

Wir werden die fünf Kapitel szenisch lesen, jeweils unterbrochen von etwas Musik. Der Erzähler wird von Georg Franitzer und von mir, Christian Modemann, gelesen. Hannah Hufnagel liest die Stadt Jerusalem bzw. die Tochter Zion und Christian Stürznickel den Propheten Jeremia.

Wir beginnen und schließen jeweils mit einem Vers als Responsorium. Er lautet „Vor den Pforten der Unterwelt rette, o Herr, mein Leben.“ – Ich spreche ihn jeweils vor und Sie können die Wiederholung mitsprechen: „Vor den Pforten der Unterwelt rette, o Herr, mein Leben.“ 


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