Dienstag, 17. November 2020

Talente und Sichtweisen

 Predigt Sonntag 15.11.2020 (33 Sonntag im Jahreskreis A), Hamburg

Liebe Schwestern und Brüder,

vor zehn Tagen wurde in Amerika ein neuer Präsident gewählt. Mehrere Tage haben wir in den Nachrichten die Hochrechnungen verfolgen können, bis schließlich vor einer Woche der Wahlsieger verkündet wurde. Noch immer gibt es kein amtliches Endergebnis und das Ringen um den Wechsel im Weißen Haus geht weiter. Die Situation stellt uns persönlich vor die Entscheidung, wem wir glauben: Dem Amtsinhaber, der von Wahlbetrug spricht und behauptet, er habe die Wahl gewonnen; alles andere sei eine Kampagne der Medien gegen ihn? Oder dem Herausforderer, der dem die Staatschefs aller Länder zum Wahlsieg gratulieren und der als Präsident aller Amerikaner verspricht, die Nation zu einen? Wer ist glaubwürdig? Wem vertraue ich? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen, man muss sich doch nur die Wahlstimmen anschauen; die Wirklichkeit ist doch – Zählung um Zählung - offensichtlich. Entscheidend sind doch die Fakten: derjenige sollte Präsident werden, der nach dem amerikanischen Wahlrecht gewonnen hat. Es kommt doch nur auf die Stimmen bzw. die Wahlmänner und -frauen an. Einfach mal hinschauen!

Die gleiche Frage stellt sich meines Erachtens auch im Blick auf das heutige Evangelium. Dort geht es um drei Diener (Knechte, Sklaven), die von ihrem Herrn, der auf Reisen ging, ein großes Vermögen anvertraut bekamen. Ein Talent entsprach damals 60 Minen, eine Mine 1000 Denaren und ein Denar war der Tagelohn eines Arbeiters. Das heißt ein Talent entsprach dem Lohn für 30 Jahre Arbeit! Wenn man das auf heute überträgt, geht es bei den acht Talenten, die verteilt werden, um etwa 4 bis 5 Millionen Euro, die an die drei Diener verteilt werden. Dabei ist klar: Das Geld wird nicht verschenkt, sondern anvertraut. Es gehört dem Herrn. Ihr bekommt es für einen bestimmte Zeit und könnt damit wirtschaften.

Nach langer Zeit kommt der Herr zurück, rechnet ab, verlangt Rechenschaft. Zwei haben gut gewirtschaftet und jeweils das Vermögen verdoppelt. Diese beiden lobt der Herr: „Sehr gut, du treuer und tüchtiger Diener.“ Er verspricht ihnen, er werde ihnen ein größeres Vermögen anvertrauen und vor allem lädt er sie ein, teilzunehmen an einem Fest: Mit ihm zu sein und teilzuhaben an seiner Freude! „Komm, nimm teil, am Freudenfest deines Herrn.“

Diese beiden würden also von ihrem Herrn sagen: Das ist ein großzügiger, unternehmungslustiger, lebendiger, wohlwollender Herr, der seinen Diener einiges zutraut, sie groß werden lässt, sie lobt, Anerkennung schenkt.

Einer hat schlecht gewirtschaftet. Er hat das Geld zwar nicht verloren, aber er hat auch nichts dazu gewonnen. Denn er ist auf Nummer sicher gegangen und hat das Geld vergraben. Das war zur damaligen Zeit eine nicht unübliche, aber eben doch wenig kreative und produktive Methode, um Geld aufzubewahren. Als er von seinem Herrn zur Rede gestellt wird, rechtfertigt er sich und sich die Schuld für seine Mutlosigkeit nicht bei sich, sondern beim Herrn. Er sagt es offen: Er hatte Angst vor Verlust und Versagen. Die Ursache dieser Angst sieht er beim Herrn selbst, den er als streng und ungerecht beschreibt. Er wird vom Herrn bestraft, indem er ihm das Vermögen abnimmt und ihn hinauswirft, in die „äußerste Finsternis“. Die Begründung für solch drastisches Verhalten? „Du bist böse und träge!“, so sagt ihm der Herr.

Dieser Diener würde als von seinem Herrn sagen – und er tut es expressis verbis in der Geschichte: Das ist ein strenger Mann, hart und unbarmherzig. Ich habe es vorher gewusst und war deshalb ärgerlich und ängstlich-träge im Umgang mit dem anvertrauten Vermögen. Dieser Herr, der Druck ausübt und Leistung fordert, der wiederkommt und abrechet, der macht mir Angst.

Zwei so unterschiedliche Sichtweisen auf den gleichen Herrn? Kann das sein? Wer ist glaubwürdig? Wem vertraue ich? Den beiden ersten Dienern oder dem dritten? Welche Kriterien gibt es, um das zu entscheiden?

In der Geschichte nimmt der Dialog mit dem dritten Diener den größten Raum ein, das Interesse der Parabel liegt eindeutig auf seiner Person. Er wird uns als eine Gestalt angeboten, mit der wir uns vielleicht sogar identifizieren können. Aber am Ende wird er bestraft und hinausgeworfen. Was für eine verstörende Geschichte!

Das Gleichnis ist widerständig und irritierend und man kann es leicht missverstehen. Zwei meines Erachtens falsche Interpretationen möchte ich nennen.

Bertold Brecht hat in seiner Dreigroschenoper dieses Gleichnis als Rechtfertigung von Ausbeutung und Profit scharf kritisiert. Mit welcher Wirtschafts-Methode haben die beiden ersten Diener einen Gewinn von 100% machen können? Wohl wahrscheinlich mit dem Handel von Waren und der Spekulation mit Land. Und die Moral des Gleichnisses scheint eine Heiligsprechung des kapitalistischen Systems zu sein: Wer hat, dem wird gegeben und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Das soll die Verkündigung Jesu sein? Dagegen protestiert Brecht. Aber meines Erachtens trifft er damit nicht den Kern der Aussage des Evangeliums.

Zugegeben: In diesem Gleichnis protestiert Jesus nicht gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Armut. Und er benutzt als Bildebene mit dem Geld, mit den Talenten, einen Vergleich aus der Wirtschafts-Welt von Handel und Spekulation. Aber es geht ihm, so meine ich, um etwas anderes als um Wirtschaftshandeln.

Das zweite Missverständnis ist die verbreitete Deutung im Sinne der individuellen Selbst­ver­wirklichung. Eine Aktualisierung der Parabel in einem Religionsbuch für Siebtklässler lautet: „Du bist sprachbegabt! Warum lernst du nie deine Vokabeln? Du verstehst die Fragen! Warum machst du keine Hausaufgaben? Du hast gute Gedanken! Warum arbeitest du nicht mit? ... Beweg dich! Mach was aus dir! Nutze die Möglichkeiten! Alles liegt an dir!“ (aus: Dasein. Wege ins Leben 7, Unterrichtswerk für den Evangelischen Religionsunterricht an der Hauptschule, von Werner Haußmann (u.a.), Frankfurt a. M. 2001, 26.) Diese Deutung liegt ganz im Trend: Nutze deine Zeit. Jede und jeder hat Talente und Begabungen. Nutze sie. Dem einen ist viel gegeben, dem anderen weniger; es kommt nur darauf an, was Du daraus machst.

Diese Botschaft ist keine ungewöhnliche Ermutigung, sondern unterstützt nur das von der Gesellschaft geforderte Leistungsdenken: Du kannst Leistung bringen, dann tu es auch. Es dient alles deinem eigenen Erfolg und Fortschritt. Wenn ich das Gleichnis so verstehe, dann ist die Bestrafung des dritten Dieners für Menschen mit Angst vor Verlust und Versagen nur eine weitere Bedrohung. Auch diese Interpretation, meine ich, trifft die Aussageabsicht Jesu nicht.

Worum geht es denn dann? Ich komme nochmals zur Ausgangsfrage zurück: Wer ist glaubwürdig in dieser Geschichte? Wem vertraue ich? Es stehen sich wie gesagt, zwei Sichtweisen auf den Herrn gegenüber: Ein großzügiger, wohlwollender, Gemeinschaft stiftender Herr und ein strenger, harter, unbarmherziger Herr. Welche Sichtweise ist richtig?

Genau wie bei der Wahl in Amerika lädt Jesus uns ein: Einfach mal hinschauen, was wirklich ist. Entscheidend sind doch die Fakten. Wach werden und die Realität wahrnehmen. Der dritte Diener, um den es hier geht, hat doch ein riesiges Vermögen anvertraut bekommen. Und er zweimal sehen können, wie der Herr gegenüber den anderen Dienern reagiert: Großzügig, wohlwollend, gütig, nicht vorwurfsvoll, kleinlich. Was er schenkt ist: Teilhaben an der Freude.

Und dann kommt er an die Reihe und behauptet einfach das Gegenteil. Schon merkwürdig, oder? Ja, zugegeben, er hat Angst. Aber warum denn? Weil er in seiner Sichtweise gefangen ist. Er ist nicht fähig oder bereit auf die Wirklichkeit zu schauen. In dem Maß jedoch, indem er sich der Wirklichkeit verschließt und in Selbstrechtfertigung verfällt, glaubt er mehr seiner eigenen Angst als dem Verhalten des Herrn.

Das Gleichnis spaltet! Es konfrontiert uns mit unserer Sichtweise auf Gott und auf das Leben. „Wir kommen, wohin wir schauen.“ (Heinrich Spaemann)

Wenn ich auf die offensichtliche Großzügigkeit und Güte Gottes schaue, erscheint mir die Welt, mein Leben, meine Begabungen, unsere Freundschaften als ein riesiger Schatz, der mir anvertraut ist und mit dem ich kreativ und produktiv umgehen kann.

Wenn ich aber Angst habe vor Gott, einen strafenden Gott vor Augen habe, gegenüber dem ich Leistung bringen muss, dann werde ich mit dieser Angst fast jedes Verhalten rechtfertigen können. Dann werde ich mich immer tiefer in mir selbst eingraben. Dann wird alles Gute, was ich tagtäglich von geschenkt bekomme, was ich erlebe, nur von dieser Angst davon geprägt sein. Dann werde ich nur auf die Mängel und die Ungerechtigkeit schauen und niemals den vermeintlichen Ansprüchen gerecht werden. Letztendlich wird mir alles aus den Händen genommen. Es bleibt nur die Angst und ich verfalle in Bosheit und Trägheit.

Das Gleichnis ist keine Einladung zum „Positiv Thinking“: Du musst nur positiv denken, dann wird alles gut. Es ist mehr eine Mahnung zum Blick auf die ganze Wirklichkeit, auf Gottes im Kern gute Schöpfung, auf die Menschen, das Leben, das uns vertraut ist. Es ist eine Einladung, die Augen auf zu machen, die Wirklichkeit wahr zu nehmen und die Angst loszulassen kann – mich auf Gott hin los zu lassen. Dass diese Sichtweise folgen hat für mein Verhalten, das brauche ich nicht zu erwähnen, oder?

„Das ist die Wahrheit unseres Lebens: Dass wir immer viel mehr geschenkt bekommen als wir geben.“ (Teresa Forcades)