Montag, 8. November 2021

Mit leeren Händen

 Predigt Manresa 2021 – Die Haltung der leeren Hände (Armut und Reichtum im Glauben)

Im Zentrum des Evangeliums steht eine Frau, die auf Gott vertraut. Sie wird uns als Vorbild eines lebendigen, mutigen Glaubens präsentiert. Sie traut Gott etwas zu. 

Liebe Geschwister im Glauben!

Das Evangelium von der armen Witwe gehört für mich zu den schwierigen Teilen der Verkündigung Jesu. Denn es ist objektiv falsch zu sagen, die Witwe habe mehr in den Opferkasten hinein geworfen als alle anderen, wenn viele Reiche viel gaben, und sie nur zwei Münzen. Gesellschaftspolitisch gesehen ist der Text noch problematischer. Denn es ist doch besser, dass die Reichen etwas für andere von ihrem Überfluss geben, als dass die Armen noch das wenige hergeben, was sie besitzen. Denn dann haben sie doch gar nichts mehr!

In meiner Jugend bin ich mit anderen gegen die Armut auf die Straße gegangen. Beim sogenannten Hungermarsch, eine Wanderung gegen den weltweiten Hunger, haben wir gegen die Armut demonstriert, gegen den Tod von Tausenden von Kindern aufgrund von mangelnder Ernährung oder Gesundheitsfürsorge. Die weltweite Armut und der Hunger von Millionen von Menschen sind, so glaube ich auch heute noch, ein Skandal. In Deutschland werden jährlich fast 13 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen, weil sie nicht benötigt werden - und in anderen Teilen der Welt sterben Menschen an Hunger. Wenn jeder gibt, was er hat so werden alle satt, so haben wir damals gesungen. Ich glaube, dass stimmt auch heute.

Armut, d.h. ein Mangel an materiellen Gütern und Lebensmöglichkeiten, vor allem die Armut von einigen wenigen im Land im Vergleich zu den Reichen, zeugt von Ungerechtigkeit und von fehlender soziale Unterstützung in einer Gesellschaft. Sie ist nicht von Gott gewollt. Im Gegenteil. Die Güter der Schöpfung sind von Gott allen Menschen anvertraut und es ist grundsätzlich genug für alle da. Sorge für die Armen wird schon im Alten Testament zur Aufgabe der Gerechtigkeit für diejenigen, die Gott suchen. 

In Bezug auf die weltweite Armut hat das Handeln im Evangelium keinen Vorbildcharakter, wenn die Armen ihren ganzen Besitz hergeben, die Reichen aber nur von ihrem Überfluss. Was aber möchte uns diese Erzählung sagen? Geht es Jesus vielleicht nicht um die messbare Größe der Gabe geht, sondern um die innere Haltung des Menschen?

Ausgangspunkt seiner Erzählung ist eine menschliche Erfahrung, die auch ich schon mehrfach machen durfte, dass tatsächlich häufig die Reichen spenden und mildtätig sind, in vielen Dingen des Lebens aber kleinlich bleiben. Und dass die Armen nicht selten großzügig und gastfreundlich sind und sich durch die Not von anderen berühren lassen, mehr als die Reichen. 


Großzügige Gastfreundschaft in Mexiko (2019)

Dahinter verbirgt sich eine Dynamik, auf die Jesus hinweisen können möchte, die ich als „Hingabe an Gottes Vorsehung“ bezeichne. Der Glaube an Gott, der sich in Jesus Christus als „für den Menschen unbedingt entschiedene Liebe“ gezeigt hat, führt zu einem Trauen auf seinen sorgendes und leitendes Wirken in meinem Leben. Gott ist gegenwärtig durch seinen Heiligen Geist, in seinen Gläubigen und in seiner Kirche. Er ist im Jetzt, in jedem Moment meines Lebens, liebevoll anwesend. 

Das spüre und merke ich allerdings nur selten, weil ich mit vielen Gedanken beschäftigt bin: Mit der Sorge um mein Ansehen und meine Ehre, mit der Sorge um meine Zukunft, mit der Sorge um mein Auskommen, in der Sorge um meine täglichen Bedürfnisse. Die Sorge um sich selbst ist natürlich, aber sie führt uns nicht weiter. Wir bemerken das oft bei anderen, selten bei uns. Sie kennen den Spruch vielleicht: „Jeder denkt an sich, nur ich, ich denk an mich.“ Das begegnet uns nicht selten, oder?

Jesus will seine Jüngerinnen und Jünger in eine andere, eine neue Weise des Zusammenlebens führen. Am letzten Sonntag haben wir die zentrale Botschaft vom Doppelgebot der Liebe gehört: „Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst“ (Mk 12,30-31). Das ist die Grundhaltung für das Reich Gottes: Den Egoismus überwinden. Heute wird dieser Gedanke weitergeführt mit der Frage: Soll ich in dieser Liebe denn wirklich alles geben? Auch wenn ich dann nichts mehr für mich habe? Wenn ich dann selbst mit leeren Händen dastehen? Wenn ich damit selbst zu einem Bettler werde? 

Die Antwort Jesu an seine Jünger ist klar und eindeutig: Ja! Die leeren Hände sind ein Zeichen dafür, dass ich jeden Tag alles neu von Gott erwarte. Die Orden, insbesondere die Bettelorden, haben diesen Anspruch Jesu prophetisch aufgenommen. Auch wir Jesuiten geloben vor dem Herrn „immerwährende Armut in der Nachfolge Christi“ (Satzungen 527), der reich war und sich für uns arm gemacht hat. Ob wir das als Jesuiten immer so leben, darüber sollen und werden wir im kommenden Jahr besonders nachdenken. Die letzte Generalkongregation des Ordens hat uns dazu verpflichtet. 

Der Lebensstil Jesu ist prophetisch, gerade für unsere Zeit, in der Konsum und Besitz scheinbar alles ist, und in der uns bewusst wird, dass es so nicht weitergeht. Prophetisch: Denn, wer die Familie aufgibt, sagt, dass er einen anderen, himmlischen Vater hat - und eine neue Familie in der Gemeinschaft der Heiligen. Wer auf die Ehe verzichtet, zeigt, dass er eine Leerstelle in seinem Leben lässt und glaubt, dass Gott sie in Liebe füllen wird. Wer freiwillig auf Besitz verzichtet und arm lebt zeigt, dass die Hingabe Gottes so erfüllend ist, dass er keine Absicherung durch materielle Güter mehr anderes braucht.

Die Lebensweise der Armut ist für die Jesuiten, so schreibt Ignatius in den Satzungen, „Mutter“ und „Mauer“ (Satzungen 287 und 553). Mauer, denn sie schützt vor der Versuchung der Absicherung, des Egoismus des Besitzes, der Überheblichkeit des Reichtums. Und sie ist Mutter, denn sie schenkt neues Leben, sie gebiert eine Haltung der Offenheit und der Bedürftigkeit, des Angewiesensein auf andere, in denen uns Gott begegnen kann.

Das zeigt: Es geht bei der freiwilligen Armut nicht nur um die Jesuiten oder die Bettelorden. Nicht jeder wird freiwillig arm leben können und wollen, aber die geistliche Haltung, die Jesus vermitteln möchte, ist etwas für jeden Jünger und jede Jüngerin: Die Lebensweise der leeren Hände. 

Verzicht hört sich an, als würde uns etwas weggenommen - wie ein Kind, das bestraft wird und auf sein Spielzeug verzichten muss. Tatsächlich aber erzählen mir viele Menschen, die geistlich leben und ihr Handeln nach dem Evangelium ausrichten, dass sie nicht selten eine Leere in sich spüren. Die Tendenz ist dann, diese Leere irgendwie zu füllen: Mit Aktivitäten, mit Filmen, mit Vergnügen, mit Essen, mit Trinken, mit Aktivismus, was auch immer. Geistlich Leben hat immer etwas mit der Erfahrung von Leere, von Bedürftigkeit zu tun. Es gibt eine Leerstelle in unserem Herzen. Und wenn wir selbst sie zu füllen suchen - und sei es geistlich durch eine besondere Meditationspraxis oder eine spezielle Buße oder besondere Taten oder was auch immer - so wird es nicht gehen. Es braucht die Erwartung und das Betteln, die Bitte, dass Gott füllen möge. Die Leere von Gott füllen lassen. Gott brauch die Leere in uns, diesen Platz, den wir ihm freihalten. Wie sollte er sonst in unser Leben hinein kommen?

Diese Leere ist geistlich – aber sie hat auch mit Äußerlichkeiten zu tun. Wenn wir unser Leben vollkommen verplanen und schon einen Kalender für 2023 führen, wie soll Gott dann noch dazwischen kommen? Wie soll uns ein Geist führen, wenn schon alles verplant und abgesichert ist? 

Christliche Spiritualität ist eine Spiritualität der Hingabe und der leeren, der offenen Hände. Wir lassen uns führen und beschenken von Gott in jedem Moment unseres Lebens, weil wir auf seine Vorsehung vertrauen. Amen. 

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Papst Franziskus schreibt in seiner Enzyklika „Laudato si“ am Schluss:  „Am Ende werden wir der unendlichen Schönheit Gottes von Angesicht zu Angesicht begegnen und können mit seliger Bewunderung das Geheimnis des Universums verstehen, das mit uns an der Fülle ohne Ende teilhaben wird. … Das ewige Leben wird ein miteinander erlebtes Staunen sein, wo jedes Geschöpf in leuchtender Verklärung seinen Platz einnehmen und etwas haben wird, um es den endgültig befreiten Armen zu bringen.“ (LS 243)

„Von den Armen können wir lernen, dass uns das Wesentliche geschenkt wird und wir uns das Leben nicht verdienen können. Jesus preist die Armen glücklich, weil sie offen sind für das Reich Gottes. Sie fühlen sich angewiesen auf Gottes Gnade. Reichtum kann dazu führen, dass wir uns hinter unserer Maske verschanzen und uns Gott gegenüber verschließen. Wir können von den Armen lernen, das Leben zu genießen. Wenn Arme feiern, dann geben sie alles her, was sie gerade haben.“ (Anselm Grün)

„Vielleicht kenne ich Gott überhaupt noch nicht; vielleicht habe ich ihm nie Einlass in mein Inneres gewährt, damit er mir mein wahres Ich und mein Selbstverständnis geben konnte. Aber wenn ich Gott nach Gottes Maßstäben entdecke, dann werde ich imstande sein, mich von meinen eigenen Ängsten und Sorgen zu lösen und mich ihm auszuliefern, ohne mich vor den Schmerzen und Leiden zu fürchten, die das zur Folge haben könnte. Ich verstehe das jetzt - aber wann wird Gott endlich alle meine Abwehrstellungen durchbrechen, damit ich das nicht nur mit Verstand, sondern auch mit meinem Herzen erkenne und vollziehe?“ (Henri J. M. Nouwen)