Montag, 19. Februar 2024

Disziplin ist Bildung



Predigt Erster Fastensonntag 2024 - Evangelium: Mk 1,12-15

Liebe Schwestern und Brüder,

vor zwei Wochen, am Fest des hl. Ansgar, feierte die Sankt-Ansgar-Schule ihr Patrozinium mit einer heiligen Messe in St. Petri. Ich habe daran teilgenommen. Etwa 800 Schülerinnen und Schüler waren versammelt. Ein Gewusel von Stimmen und Gerüchen, Kinder aller Hautfarben und Temperamente, Mädchen und Jungen, große und kleine. Als es losgehen sollte, stimmte das Orchester noch die Instrumente auf der Orgelbühne, einige Schüler kamen zu spät und suchten ihre Plätze. An Andacht vor der heiligen Messe war nicht zu denken. Aber irgendwie gelang es dann doch, kurz bevor der Gottesdienst begann, sich zu konzentrieren, still zu werden und da zu sein. Sich zu disziplinieren, jede und jeder für sich, in Gemeinschaft, so könnte man sagen. Eine beeindruckende, wichtige Erfahrung.

„Bonitatem, et disciplinam, et scientiam doce me, domine“. Der Wahlspruch der Sankt-Ansgar-Schule fand sich auf dem Liedblatt, das auslag. „Bonitatem, et disciplinam, et scientiam doce me, domine“. Dieser Wahlspruch steht auch über dem Hauptportal der Schule. Die deutsche Übersetzung lautet ungefähr: „Güte und Bildung und Einsicht lehre mich, Herr.“ Es ist ein Zitat aus der lateinischen Fassung der Psalmen (VUL Ps 118,66). 

Wenn Sie in der Einheitsübersetzung der Bibel nachlesen, steht dort: „Gutes zu verstehen und zu erkennen, lehre mich.“ (EIN Ps 119,66) Da ist von Disziplin nicht die Rede, nur von Verstehen und Erkennen. 

Denn Disziplin ist im Deutschen kein positiv besetzter Begriff, im Gegenteil. Die Sekundärtugenden, die spätestens seit den 1968er-Jahren in Deutschland wegen der von den Nazis missbrauchten Tugenden allgemein abgelehnt wurden, wie z.B. Pünktlichkeit und Ordnung, Gehorsam, Fleiß, Zuverlässigkeit, Bescheidenheit oder Höflichkeit sind anerzogene Verhaltensweisen, die noch nichts über die ethische Bedeutung der Handlung eines Menschen sagen. Wie aber ist das mit der Disziplin? Gehört sie zu diesen Sekundärtugenden? Was meint Disziplin eigentlich? Geht es um Regeln, um das Einhalten einer vorgegebenen Ordnung? 

„disciplina“ ist im Lateinischen ein sehr dehnbarer Begriff: Er meint (laut PONS) 1/die Unterweisung, den Unterricht, die Lehre, dann 2/ die Bildung, Kenntnis, Fertigkeit, Kunst; 3/ Schule, Methode, 4/ ein wissenschaftliches Fach allgemein, 5/ die strenge Erziehung, 6/ die militärische Disziplin, 7/ die Sitte, die Gewohnheit bis hin zu 8/ die Staatsverfassung, die Staatsordnung.

„disciplina“ lässt sich zunächst einmal mit Bildung und Formung übersetzen. Es ist das Verhalten eines Menschen, der sich unterweisen und unterrichten lässt, der sich eine Kenntnis oder eine Fähigkeit erwirbt, indem er sich übt. Disziplin ist die Bereitschaft, sich formen zu lassen und vor allem sich selbst zu formen. Dem Leben eine Form zu geben. Im Leben zu üben bedeutet hinfallen und wiederaufstehen, Widerstände überwinden, Scheitern akzeptieren und immer wieder neu anzufangen.

Den deutschen Begriff „Bildung“ gibt es sonst in keiner anderen Sprache. Im Englischen ist z.B. von „education“ die Rede oder von „formation“, aber dass dieser Vorgang der Erziehung eine Kunst ist, eine bildende Kunst, und dass es vor allem darum geht, sich selbst zu bilden, in einem ganzheitlichen Sinn, das hat die Pädagogik in den letzten 100 Jahren immer mehr erkannt. Und wenn ich diese Bildung in der Beziehung mit Gott erhalte, dann nennt man es Glaube, praktizierte Religion.

Wir stehen am ersten Sonntag der Fastenzeit am Beginn der sogenannten österlichen Bußzeit. Gläubige Christen nutzen diese Zeit, um sich durch Fasten, Gebet und Almosen auf Ostern, auf das Fest von Tod und Auferstehung Jesu vorzubereiten. Und wie geht das? 

„Man nimmt sich eine Zeit lang zurück, um wieder Herr im eigenen Haus zu werden, um nicht immer stärker Gewohnheiten und Alltagssüchten zu erliegen. Man folgt selbst erfundenen Regeln und macht die Erfahrung, dass man fähig ist, diese einzuhalten.“ So schreibt der Hamburger Literaturwissenschaftler Frank Berzbach in einem Blogbeitrag "Die christliche Fastenzeit und die Moden des Fastens", 2024. Er beschreibt darin die paradoxe Erfahrung, dass man gewissen Regeln folgt, sich einschränkt und so eine neue Freiheit spürt.

Diese Form der Selbstbildung geschieht traditionellerweise nicht in der Öffentlichkeit. „Bei den Wüstenvätern kann man nachlesen, dass man das Fasten nicht vor sich hertragen soll; Fasten ist eine stille Angelegenheit.“ Wie ja auch das Gebet eine sehr persönliche Sache ist: „Wenn Du betest, dann geh in Deine Kammer.“ So sagt es Jesus. 

Es gibt das öffentliche Fasten: Die Gemeinschaft der katholischen Christen fastet am Aschermittwoch und am Karfreitag. An diesen beiden Fast- und Abstinenztagen soll man auf Fleisch verzichten, keinen Alkohol trinken und sich nur einmal am Tag satt essen. Aber ansonsten ist die Fastenzeit eine ziemlich individuelle Sache. Jeder nimmt sich etwas anderes vor. Das ist sicherlich schwieriger, etwas allein in guter Weise durchzuhalten; leichter ist es, wenn es die anderen auch machen. Aber es hat eben damit zu tun, dass wir von Gott die Gabe und die Aufgabe bekommen haben, uns selbst zu bilden und unser Leben zu formen.

Noch einmal Berzbach: „Das religiöse Fasten verlangt also viel: Es ist eine Übung der Selbstdisziplin, die verborgen bleiben sollte; es bedarf des Ehrgeizes, der uns aber keine sozialen Pluspunkte bringt; der Lohn der Fastendisziplin wird uns nicht von anderen Menschen gegeben, sondern liegt vielleicht außerhalb unseres Lebens. Das es positive Nebeneffekte geben kann, steht nicht im Vordergrund. Wer fastet muss nach innen diszipliniert und nach außen locker sein, das ist viel schwieriger als der Verzicht auf bunte Zimtschnecken. Fasten ist also für Christen keine Praxis, die nur den eisernen Willen trainiert.“ 

Allerdings: Der Sabbat ist für den Menschen da – und auch die Gebote und Regeln der Kirche für die Fastenzeit sind letztendlich für den Menschen da, nicht für Gott. Sie sollen uns helfen, innerlich freier zu werden. Gleichzeitig braucht es dafür die Ein-Übung, die Selbstdisziplin, das kluge Abwägen, was jetzt gerade dran ist, die Überwindung der eigenen Bequemlichkeit und die Luststeuerung. Die Lust ist nichts Schlechtes, aber wenn ich von der Lust getrieben bin und sie nicht mehr als eine Motivation zum Guten erlebe, dann sollte ich mal schauen, ob ich etwas ändern kann.

Der heilige Ignatius nannte diese Form, sich zu ändern, das „agere contra“. Das bedeutet: Wenn ich spüre, dass mich mein Charakter immer in die eine Richtung zieht, dann darf und soll ich in dieser Fastenzeit mal bewusst versuchen, ein bisschen zu viel in die Gegenrichtung zu steuern. Wenn ich oft zu viel esse, etwas weniger als das Normale; und wenn ich oft zu wenig esse, dann etwas mehr als das Normale.

Das ist die Spannung, um die es in der Fastenzeit geht: die Spannung zwischen Einübung von Loslassen, zwischen Selbstüberwindung und Lockerheit. In der Fastenzeit liegt der Akzent mehr auf dem Verzicht. In der Fastenzeit geht es um Erfahrungen, so wie Jesus sie in der Wüste gemacht hat. Sie gehörten für ihn zu seinem religiösen Leben dazu, auch wenn sie nicht das Ziel waren. Güte und Einsicht sind das Ziel. Die Disziplin ist ein Mittel.

Probieren Sie es doch in den nächsten Wochen einfach mal aus. Im Vertrauen darauf, dass Sie dabei nicht allein sind, dass die wilden Tiere da sind und die Engel, die ihnen dienen. Amen.


Donnerstag, 15. Februar 2024

Staub und Geist

Foto von Ahna Ziegler auf Unsplash

Predigt Aschermittwoch 2024

Les: Joel 2,12-18; 2Kor 5,20-6,2; Mt 6,1-6.16-18

„Asche auf mein Haupt“, so sagt man, wenn man einen Fehler begangen hat oder sich einer Schuld bewusst ist, und Reue zeigt. Die staubige Asche auf dem Kopf ist religiös seit mehr als 2000 Jahren ein Zeichen der Klage und der Buße: bei den Israeliten, den Ägyptern, den Arabern und den Griechen. Es ist ein Bild für die Vergänglichkeit und die Trauer bzw. die Buße. 

Die Asche ist hier und heute ein Zeichen für den Beginn der österlichen Bußzeit. Seit mehr als 1000 Jahren gibt es in der Kirche den Brauch, sich zu Beginn der Fastenzeit mit Asche bestreuen zu lassen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mit dem Ritual des Aschekreuzes so meine Schwierigkeiten habe: „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst.“ Ist diese Botschaft befreiend? Hilfreich? Im Sinne des Evangeliums?

Die Frage, ob solche Art von Zeichen, von Gesten und äußerlicher Buße sinnvoll ist, gibt es schon lange. Der Prophet Jesaja fragte, ob es im Sinne Gottes sei, sich zur Buße mit Asche zu bestreuen: „So spricht der Herr: Ist das ein Fasten, wie ich es wünsche, ein Tag, an dem sich der Mensch demütigt, wenn man den Kopf hängen lässt wie eine Binse, wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem Herrn gefällt?“ (Jes 58,5) 

Nun, wie auch bei anderen Riten, so kommt es auf die richtige innere Einstellung und das rechte Verständnis an und ich habe mir dazu einige Gedanken gemacht. Ich lade sie ein, diesen Gedanken zu folgen und zu schauen, ob sie damit etwas anfangen können, für ihren Alltag in den nächsten Wochen.

Am Anfang steht das Feuer. Das Feuer des Heiligen Geistes. Die Glut der Liebe. Der Lichtschein der Wahrheit. Die Wärme des Lebens und die Zuversicht des Glaubens. Wenn ich mich für etwas begeistern kann, dann springt der Funke über, dann bin ich Feuer und Flamme, dann brenne ich. 

Einigen Menschen steht die Lebendigkeit, die Freude ins Gesicht geschrieben: Sie haben eine gesunde Gesichtsfarbe, rote Wangen. Man spürt gleichsam den Pulsschlag des Lebens in ihren Worten und Gesten. Jugendliche Frische und Lebendigkeit beeindrucken und erfreuen. Und manche denken, dass dies das Leben sei. 

Doch weiß jeder, der sich etwas umschaut, und auch aus dem eigenen Erleben, dass es kein Feuer ohne Asche gibt. Bei allem, was wir tun, gibt es nicht nur Reibungsverluste, sondern auch Fehler, Missverständnisse und Scheitern. Einige Menschen stören sich nicht daran und sagen, „wo gehobelt wird da fallen Späne“. 

Andere Menschen aber empfinden ein Missbehagen angesichts des eigenen Fehlverhaltens oder fremder Missgunst. Das unbedachte Wort in einer E-Mail, die aus Ärger geschrieben wurde. Der vergessene Geburtstag einer Bekannten. Die Wut und der Zorn über die Fehler von anderen. 

Es gibt keine perfekte, schöne Welt und wir leben mit unseren Begrenzungen, unserer Verletzlichkeit und unserer Vergänglichkeit, unserem Scheitern, unserem ambivalenten Verhalten. Das liegt an der Sünde, die sich breit macht. Und trotzdem ist das Leben lebenswert, ist nicht alles vergeblich. Es gibt das Feuer nicht ohne die Asche, und trotzdem bin ich froh, dass es das Feuer gibt.

Anmerkung: Physikalisch ist das nicht ganz richtig, dass es kein Feuer ohne Asche gibt. Bei der Verbrennung von Wasserstoff zum Beispiel entsteht keine Asche, sondern Wasser. Aber ich bleibe jetzt hier einmal beim Bild vom Feuer und von der Asche - als einem Symbol.

Es gibt die Asche im Leben. Angesichts dieser Erkenntnis gibt es nun zwei Straßengräben, d.h. falsche Verhaltensweisen, die die von Menschen eingenommen werden. 

1/ Die eine Weise ist, nur auf die Asche bei sich selbst zu schauen. Voller Skrupel und mit einem sehr hohen Ideal die eigenen Fehler, das eigene Scheitern und die eigene Vergeblichkeit zu beklagen und völlig gefangen zu sein in Selbstzweifeln und Bitterkeit. Und dann letztendlich gar nichts mehr zu Wege zu bringen. „Es ist doch alles vergebliche Liebesmühe.“ – „Wie man man’s macht, macht man es falsch.“ Vielleicht kennen Sie solche Leute.

2/ Der andere Straßengraben ist, nur auf die Asche bei anderen zu schauen. Überhaupt keine Selbstzweifel zu haben, sämtliche negativen Gefühle, Fragen oder Verletzungen wegzudrücken und die eigene Schuld angesichts der riesigen Fehler der anderen dauernd zu relativieren. Den Splitter im Auge des anderen sehen, aber den eigenen nicht. Die Verantwortung für das eigene Leben nicht zu übernehmen. „Schuld sind immer die anderen.“ Vielleicht kennen Sie auch solche Leute.

Das sind die beiden Straßengräben. Aber wo geht der richtig Weg lang? 

Das Evangelium erinnert heute an den Vater, der auch das Verborgene sieht. Dreimal wird dies im Evangelium wiederholt. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es die vergelten. Dein Vater, der ins Verborgene blickt. Gott sieht das, was innen ist, nicht auf das Äußere. 

Wird uns dann angst und bange? Wenn Gott alles sieht, was sieht er da? All unsere Süchte, unsere Bequemlichkeit, unsere Langeweile. Die Zeiten, wo man innerlich so voller Ärger und Wut ist, oder so voller Traurigkeit und Enttäuschung, dass alles um einen herum darunter leidet, dass am Ende des Tages nicht viel mehr übrigbleibt als ein paar zugeschlagene Türen und Worte, die man hinterher bereut?

Aber Gott sieht eben auch das Feuer, das Gute, das Leben in mir. Die Botschaft des Evangeliums vom Vater, der in das Verborgene blickt, ist eine frohe Botschaft, sobald mir diese Wirklichkeit meines Lebens bewusst wird - und dass gerade dieser Blick Gottes innerlich Heilung und Vergebung schenkt.

Der Weg ist also, Gott draufschauen zu lassen. Zugeben: Ja, Vater, ich habe gesündigt, ich bin nicht perfekt. Das bekennen wir, wenn uns mit dem Zeichen der Asche bezeichnen lassen. Es braucht Heilung durch das Kreuz. Das Kreuz ist das Zeichen der Barmherzigkeit Gottes. 

Es wird in diesen Tagen viel über die Barmherzigkeit gesprochen. Manchmal wird das Wort auch missverstanden, so als ob es nichts mehr gibt, was richtig und was falsch ist. Die Erfahrung der Barmherzigkeit hat damit zu tun, dass ich etwas in meinem Leben als falsch erkenne und trotzdem auf Heilung hoffe, trotzdem glaube, dass Gott mir vergibt. Das ist ein großer Unterschied.

Karl Rahner hat das Bild von Asche und Feuer in seiner Beschreibung vom Menschen verwendet: er schreibt, der Mensch sei „Staub“, und er sei „Geist“. Beides. Und das Besondere des Menschen sei es, dass er gerade mit seinem Geist, mit dem er Gott erkennen kann, auch seine eigene Unbegreiflichkeit, seine Ausweglosigkeit, seine Schuld, sein Zugehen auf den Tod erkennt. Dass er also durch seinen Geist mehr ist als Staub. Dass er sich aber mit seinem Geist sich vor Gott als Staub erkennt. Was ihn er rettet und erlösen wird, ist, wenn er sich, trotzdem von Gott geliebt weiß und zum neuen Leben erweckt wird, mit Jesus, in seinem Geist, aufersteht.

Die Asche ist das Symbol der eigenen Vergänglichkeit, der Begrenztheit, der Schuld und der Fehler. Insofern steht sie am Beginn der österlichen Bußzeit. Die Asche erinnert uns aber auch daran, dass es das Feuer gibt. Beides wird dereinst nicht mehr sein, „wenn es keine Nacht mehr gibt und man weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne mehr braucht.“ (Offb 21). Bis dahin aber dürfen wir beides wahrnehmen. Feuer und Asche. Heute die Asche. Amen.