Dienstag, 3. Oktober 2023

„Warum nicht?“

Predigt 26. Sonntag im Jahreskreis A, Hamburg 2023

Die Ressource: „innere Freiheit“

Les: Phil 2,1-11; Mt 21,28-32

Predigt: Liebe Geschwister im Glauben,

im Rahmen der Predigtreihe haben ihnen an den vergangenen Sonntagen drei Predigerinnen jeweils eine Ressource vorgestellt, die ihnen Kraft und Mut im Glauben gibt: Sr. Klarissa die Ressource des Suchens nach dem eigenen Weg, Martina Altendorf die Vergebung, Barbara Viehoff den Perspektivwechsel. Heute möchte ich eine Ressource vorstellen, die mir Kraft und Mut im Glauben gibt: die „innere Freiheit“.

Wir haben im Moment Besuch von einem älteren Herrn, ein Bekannter von Pater Mehring, der nach einigen Irrungen und Wirrungen im Leben schließlich Religionslehrer geworden ist und darin seine Berufung gefunden hat. Er erzählte beim Abendessen, auf welch ungewöhnlichem Weg er dazu gekommen ist. Die Geschichte endete damit, dass all die Ereignisse und Begegnungen ihm deutlich gemacht haben, dass der „oberste Chef“, so drückte er sich aus, „es so gewollt habe“. Das habe ihm eine große innere Freiheit gegeben in diesem Beruf.

Das Evangelium, dass wir gerade gehört haben, ist in diesem Sinne auch eine Berufungsgeschichte. Der Vater ruft nacheinander seine zwei Söhne und bittet sie: geh und arbeite heute im Weinberg. Die Antworten der beiden fallen unterschiedlich aus. Der eine sagt „nein“, geht dann aber doch. Der andere sagt „ja“, geht aber nicht. Die Antwort auf die Frage, wer den Willen des Vaters getan hat, ist jedoch einhellig: Der erste ist schließlich der Einzige, der etwas getan hat.

Ist die Pointe der Erzählung also, dass es mehr auf die Taten ankommt und als auf die frommen Worte? Dies bestreiten weder die Hohepriester noch die Ältesten der Juden, mit den Jesus diskutiert. Ignatius von Loyola würde sagen, dass man die Liebe mehr in die Taten als in die Worte legen soll. In dem Punkt sind sie sich doch offenbar einig. Worum geht es bei diesem Gleichnis dann eigentlich?

Eine kleine Zwischenfrage an Sie mag uns helfen: Welcher der beiden Söhne, denken Sie, war am Ende des Tages glücklicher? […] Derjenige, der den Tag gearbeitet hat – oder der andere?

Das Gleichnis vom willigen und vom unwilligen Sohn hebt, so denke ich, vor allem auf die innerliche Veränderung ab, auf das, was beim Einzelnen innerlich geschieht: auf die Umkehr und die Reue, auf die Einsicht und die Wirkung, die damit zu tun hat, dass man auf das Recht-behalten-wollen, verzichtet. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt in dieser Geschichte - und auch bei der Frage nach der Berufung und der inneren Freiheit.

Berufung ist die Wahrnehmung, dass ich etwas tue, was nicht nur auf meinem eigenen Mist gewachsen ist; dass ich geführt werde von Gott, auf einem Weg, den ich mir selbst nicht vorgestellt oder ausgesucht habe und den ich doch selbst gewählt habe. Berufung ist die schrittweise Erkenntnis, dass die einzelnen Puzzle-Teile meines Lebens doch irgendwie zusammengehören und dass es einen größeren Sinn gibt, den Gott für mich kennt und mir zu deuten hilft.

Es geht bei Berufung nicht in erster Linie um die Reue des Sohnes. Diese spielt sicherlich in einem Moment auch eine Rolle: Dass er sich gedacht hat, mehr noch, dass er gespürt hat: „Meine Antwort war nicht okay.“ Ich könnte dem Vater im Weinberg heute einmal helfen. Warum mich der Vater bittet, das ist gut möglich und mir bricht kein Zacken aus der Krone. Es geht bei Berufung eher um die Einsicht, dass auch eine andere Antwort möglich geworden gewesen wäre - und um das Vertrauen, dass ich es wagen könnte.

„Pourqoui non?“ - „Warum nicht?“ Diese Frage steht unter einem Marienbild, dass bis heute in der Kapelle der heimatlichen Burg derer von Loyola hängt. Die Frage ist erfunden die Antwort Mariens auf die Botschaft des Engels, ob sie bereit ist, ein Kind zu erwarten, ob sie bereit ist, die Mutter Gottes zu werden. Warum nicht? Das wird auch die Antwort des ehrgeizigen, jungen Basken Inigo sein, als er in sich den Ruf spürt, eine Wallfahrt nach Jerusalem zu unternehmen, allein und zu Fuß.

Warum nicht? Das ist eine Antwort auf eine mögliche Berufung. Was braucht es dafür, um eine solche Antwort geben zu können? Man soll nicht naiv zu allem „ja“ und „amen“ sagen; nicht jeden Dienst übernehmen, den andere einem antragen; nicht auf jeden Zug aufspringen, egal wohin er fährt.

Drei Dinge sind wichtig, um gut unterscheiden zu können.

1/ Es braucht das grundlegende Vertrauen, dass der, der mich ruft, es gut mit mir meint. Er ist der Vater, und ich bin sein geliebter Sohn, seine geliebte Tochter. Ich bin von ihm gesehen und in seinen Augen wertvoll.

2/ Es braucht die Offenheit, dass Veränderung möglich ist, dass ich in den Augen Gottes wachsen kann. Er traut mir etwas zu, und ich kann „hören, wer ich sein kann“.

3/ Es braucht die Hoffnung auf eine größere Gerechtigkeit, auf einen größeren Sinn, der Orientierung schenkt. Manche nennen das Werte. Ich würde es eher Demut nennen; weil es nämlich um die Bereitschaft geht, auf das Recht-behalten-wollen und das Bescheid-Wissen zu verzichten und einfach zu dienen, ohne die erste Geige zu spielen.

Das hört sich vielleicht etwas abstrakt oder kompliziert an: Vertrauen, Offenheit für Veränderung, Hoffnung auf eine größere Gerechtigkeit, aber ich sehe darin tatsächlich die drei Grundbausteine einer Berufung, auf die sich bauen lässt.

Wenn sie es kürzer und einfacher haben möchten: neu anfangen ist möglich. Im Glauben sind wir alle Anfänger, weil Gott neu mit uns anfängt, jeden Tag. Und es kommt auf deine Antwort an, nicht nur im Wort, sondern auch in der Tat.

Ganz schön beschreibt Paulus diese Haltung in dem Brief an die Gemeinde in Philippi. In Philippi, im Norden Griechenlands, an der Grenze zu Mazedonien, liegt eine von Paulus gegründete Gemeinde. Es ist seine Lieblingsgemeinde, zu der er eine besonders enge Beziehung hatte. Die Gemeinde ist im Evangelium verwurzelt. Die Botschaft vom „Trauen Gottes“ ist klar, aber es gibt Probleme bei der Umsetzung, es gibt Auseinandersetzungen untereinander.

In dieser Situation bringt er die Berufung des Christ-Seins auf einen zentralen Punkt: dem anderen den Vorrang einräumen bzw. aufs Recht-behalten-wollen zu verzichten. (vgl. Norbert Baumert, Der Weg des Trauens, Paulus neu gelesen, Würzburg, 2009).

Paulus ist in Gefangenschaft und er wünscht sich von der Gemeinde, die er sehr schätzt, ein Zeichen der Ermutigung und des Trostes. Und er bittet sie: „Macht meine Freude vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig. Dass ihr nicht aus Streitsucht und nicht aus Prahlerei heraus handelt. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.“

„Eines Sinnes sein“, das bedeutet nicht eine Gleichschaltung der Gedanken, sondern eine gemeinsame Ausrichtung: in der gleichen Liebe zu Gott ein gutes Miteinander pflegen: ohne Rivalitätsdenken, ohne Missgunst und Neid. Und dabei jeweils die anderen so einschätzen, dass sie vor euch selbst den Vorrang haben. Ganz selbstverständlich im alltäglichen Umgang miteinander schlicht und ohne gekünstelte Manieren! Eine innere Haltung den anderen gegenüber.

Achtung: nicht Höherbewertung! Nicht den anderen für besser halten. Es geht nicht ums Urteilen „der andere ist moralisch besser als ich“ – das Urteilen ist allein Gottes Sache. Es geht um Zuvorkommenheit, um Respekt, dem anderen den Vorrang zu geben.

Konkret: dem anderen das größere Tortenstück zu überlassen. Oder in der Kommunität bereit zu sein, auch einmal das Klo zu putzen. Oder im Gemeinderat dem anderen den Vorsitz zu überlassen. Oder beim Dank einmal nicht an erster Stelle genannt zu werden. Das kratzt am Ego. Darum geht es.

Das setzt gerade das Wissen um die eigene Würde voraus! Nur wenn ich nichts verteidigen muss, weil ich in Gott geborgen bin, nur wenn ich keine Angst mehr habe um mich selbst, kann ich anderen den Vortritt lassen, kann ich aufhören Recht behalten zu müssen.

Die Interessen der anderen berücksichtigen, d.h. eine andere Perspektive einnehmen. Und zwar aufgrund der eigenen Christusbeziehung dem anderen Vorrang zu geben. Und auch die eigenen Schwächen einzugestehen. In der Schwachheit werden wir einander Geschwister!

Das bedeutet nicht, immer zurückzustehen und sich zu verkriechen. Das Beispiel Jesu ist angezielt. Der hat sich nicht vorgedrängelt, er kannte allerdings klare Worte und deutliche Positionen. Er hat seinen Platz eingenommen als Lehrer, als Meister!

Selbstverständlich: Gott hat immer den Vorrang. Sein Auftrag an den Menschen hat Vorrang. Keine falsche Unterwürfigkeit und Duckmäuserei. Aber in der Entschiedenheit eine bestimmte Haltung der Freiheit, um die geht es hier. Um eine Haltung des Dienens, vgl. Lk 22,27b („Ich bin unter euch als einer der dient.“)

Das Beispiel Jesu wird dabei leitend (vgl. V5): So habt ihr bei Euch und unter Euch die Gesinnung, die man „in Christus Jesus“ haben sollte. Das heißt nicht: dieselbe Gesinnung haben wie Christus (sich kreuzigen lassen), sondern es heißt eine der eigenen Christusbeziehung entsprechende, angemessene Gesinnung zu haben: Wenn ich in Beziehung zu Christus stehe, dann der andere doch auch! Seine Freunde sind auch meine Freunde, oder nicht?

Wie sich also Jesus Christus als Mensch unter Menschen verhielt (vgl. V6): „Er, der in seinem irdischen Leben von Gottes Wesensgestalt war -, hat es nicht (triumphierend) wie einen Raub betrachtet, sich so zu verhalten, wie es Gott entspricht, sondern hat sich selbst völlig zurückgenommen“, d.h. er hat darauf verzichtet, seine göttliche Macht zu gebrauchen – obwohl er es hätte tun können.

Einige, die diese Stelle gut kennen, hören dort von der Übersetzung her eine zeitliche Reihenfolge: als ob der Sohn, vor aller Zeit beim Vater, bei der Menschwerdung gesagt hat: naja, dann lasse ich das Gott-Sein mal für eine kurze Zeit bleiben und werde Mensch und gehe auf die Erde. Jesus als ein Avatar, der jetzt unter den Bedingungen des Menschseins agiert, d.h. nicht Gott ist, und dann wieder zu Gott zurückkehrt und seine Kräfte wiederbekommt.

Nein, das ist nicht gemeint bei Paulus. Ausgangspunkt ist wörtlich „Christus Jesus“, d.h. der konkrete, historische Mensch Jesus von Nazareth. Der ist schon Mensch und Gott zugleich und dann hat er auf etwas verzichtet. Er hat etwas losgelassen in seinem Leben. Kenosis ist also nicht, dass Jesus sich seiner Gottheit bei der Menschwerdung oder beim Sterben entäußert hätte, sondern es ist der Verzicht des Menschen Jesus auf die Ausübung seiner göttlichen Macht, besonders in seiner letzten Phase, in der Hingabe seines Menschseins in den Tod.

Der Satz „er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich“ ist nicht eine Abfolge. Richtig übersetzen müsste man dort mit einer zeitlichen Nachordnung: „er nahm sich zurück, nachdem er eine Sklavengestalt ergriffen hatte.“ D.h. er war schon als Mensch geboren und hat dann auf etwas verzichtet: In der entscheidenden Konfrontation der Menschen mit seiner Sendung verzichtet er bewusst auf alle göttliche Wunderkraft und auf alle menschlichen Machtmittel (Besitz, Anhängerschaft, Beziehungen, Verhandlungen, etc.) – und vertraut allein auf die Liebe.

Das ist Berufung meines Erachtens: neu anfangen, aufs Recht behalten wollen verzichten, bereit sein zu dienen – und zu vertrauen, nur auf die Kraft der Liebe, nicht auf menschliche Machtmittel. Das schenkt innere Freiheit. Warum nicht?