Montag, 7. November 2022

Predigt zum achtzigsten Geburtstag meines Vaters


Predigt in der Eucharistiefeier anlässlich von Papas 80. Geburtstag, 5.11.22 Hattingen, Hl. Geist

Les: Phil 1,4-6.8.11; Mt 6,24-34 – Von der rechten Sorge


Lieber Papa, liebe Mama, lieber Verwandten und Freunde meiner Eltern, liebe Geschwister im Glauben!

„Sorgt euch nicht um euer Leben“, so sagt Jesus in der Bergpredigt, sondern freut euch an dem, was euch geschenkt ist: an der Schönheit der Natur, wie zum Beispiel die Lilien auf dem Feld, und an dem, was ihr wie die Vögel des Himmels zu essen und zu trinken habt. 

Wir feiern ein Fest und wir dürfen heute die Sorgen des Alltags hinter uns lassen. Wir möchten Gott danken für Dein Leben, lieber Papa, und zurückschauen auf 80 Lebensjahre im Frieden, mit einer immer noch guten Gesundheit, zusammen mit der Familie und den Freunden. Das ist ein Grund sich zu freuen, zu feiern – und eben sich einmal nicht zu sorgen. 

Gilt dieses Wort Jesu auch angesichts der vielen schrecklichen Nachrichten von Krieg und Überschwemmung, von Energiekrise und tödlichen Unfällen: „Sorgt euch nicht!“?

Vielleicht ist dieses Evangelium besonders für ältere Menschen von Bedeutung, weil es im Alter die Erfahrung der Mühsal und der Sorge gibt. „Jeder Tag hat seine eigene Plage“, so mag wohl mancher einstimmen, bei dem das ein oder andere Gebrechen, die Vergesslichkeit, die Krankheit dazu führen, dass alles nicht mehr so leicht ist. Gerade ältere Menschen haben nicht selten den Eindruck, dass es in ihrem Leben viele Hindernisse und Beschwernisse gibt. 

Vielleicht hat Dich, lieber Papa, dieser Text auch deshalb angesprochen: Weil Jesus Dir die Erlaubnis gibt, die Sorge loszulassen, die Angst vor dem, was da am Ende des Lebens noch bevorsteht. „Euer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Deshalb sorgt euch nicht und morgen.“ Und Du hast auch die Erfahrung gemacht, dass man das Leben durch all seine Sorgen nicht verlängern kann. Einige von Deinen älteren Geschwistern sind heute nicht dabei nicht mehr dabei, einige Freunde sind schon gestorben. Das Leben lässt sich nicht, wie man selbst es vielleicht manchmal möchte, verlängern. 

Also: Sorgt Euch nicht um morgen. Aber worum denn dann? Um übermorgen? „Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit!“. Das ist keine Vertröstung auf das, was nach dem Tod kommt, denn das Reich Gottes ist schon mitten unter uns. Jesus will uns sagen: Sorge dich nicht um morgen, sondern sorge Dich um das Heute; das, was jetzt dran ist, wo du hier und heute Gott finden kannst und seine Gegenwart, die unter uns Menschen lebendig ist in seinem Geist. Das ist die rechte Sorge, die Sorge für das Wesentliche, die Sorge für heute. 

Sorgt euch nicht um morgen, denn: „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde. Heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn er kommt.“ – so habt ihr oft gesungen. Das wird sehr schön im Gebet deutlich, das Jesus uns gelehrt hat, im Vater unser: Wir beten: „unser tägliches Brot gib uns heute“. Heute, nicht morgen, brauchen wir das Lebensnotwendige und das, was darüber hinausgeht, das „überwesentliche“ Brot. Oder in den Psalmen heißt es: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet nicht euer Herz.“ (Psalm 95) 

Nun gibt es allerdings für Menschen, die im Heute leben, zwei Straßengräben, in die man leicht geraten kann. Der eine Straßengraben ist die Sorglosigkeit im Sinne einer Naivität. Der „Hans guck in die Luft“, es wird schon nichts passieren, „et hat noch immer jut jejangen“. Ein Mensch, der sich in die Sonne setzt, ohne einen Hut aufzusetzen, ein Mensch, der betrunken Auto fährt, ein Mensch, der nicht zum Arzt geht und so weiter. Auf die Vorsehung Gottes zu vertrauen ist das eine, die Schwierigkeiten oder Grenzen des eigenen Lebens nicht annehmen zu wollen, ist das andere.

Der andere Straßengraben, in den Menschen geraten können, die sich nicht sorgen, ist eine Sorglosigkeit im Sinne einer Gleichgültigkeit. Aus einem Überdruss heraus, als eine Trägheit des Herzens, aufgrund von Gedanken, die nicht vom Guten kommen und uns in eine Art Lethargie oder Depression bringen. „Es hilft doch sowieso alles nichts“, meine Sorge ist vergeblich. Das ist eher Frust und Traurigkeit als Sorglosigkeit!

„Kummer,“ so der Wüstenvater Evagrius Pontikus, „entsteht bisweilen infolge einer Entziehung von Begierden, bisweilen aber folgt er auch der Wut.“ Ich übersetze mal: Kummer entsteht einerseits, wenn wir unzufrieden sind und das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Oder Kummer entsteht andererseits, wenn wir den Ärger über andere herunterschlucken, nicht vergeben können, sondern uns am liebsten rächen würden, weil andere uns vermeintlich etwas Böses angetan haben. 

Kummer entsteht, wenn wir uns beschweren. Das ist ein schönes deutsches Wort. Denn wenn sich jemand über andere beschwert, dann beschwert er sich ja auch selbst, er lädt sich eine Last auf. 

Es gibt sicher viele Dinge in unserer Welt und in unserer Kirche, die nicht in Ordnung sind. Meistens entsteht dann aus einem starken Sinn für Gerechtigkeit eine Empörung. Die Empörung aber verhallt, weil sich die Dinge nicht ändern, oder nur sehr langsam; denn unsere Welt ist sehr komplex geworden. Es ist mühsam geworden, Dinge zu verändern, selbst wenn viele das möchten. Es gibt Einzelinteressen zu berücksichtigen und niemand mag zurückstehen.

Dann werden Menschen wütend und müde, „mütend“, wie man neuerdings sagt. Das ist aber nichts Neues. Noch einmal Evagrius Pontikus: „Der Kummer ist eine Niedergeschlagenheit der Seele und diese entsteht aus Gedanken der Wut. Denn ein Verlangen nach Rache ist der Zorn, ein Misslingen der Rache aber erzeugt Kummer.“ Diese Einsichten stammen aus dem vierten Jahrhundert!

Doch zurück zum Evangelium: Jesus spricht von der rechten Sorge, die wir haben sollen: Keine Sorge um alles oder jenes, keine Sorge angesichts der vielen Auseinandersetzung, der Kriege, der Konflikte, der Ungerechtigkeit, keine Sorge für morgen oder übermorgen, sondern eine Sorge für heute, die

a. aus Dankbarkeit und Freude entsteht, die sich 

b. auf das Wesentliche richtet, auf das Reich Gottes, das schon nahe gekommen ist und auf seine Gerechtigkeit, und die 

c. nicht naiv oder frustriert ist, sondern mit einem wachen Realitätssinn und einem guten klugen Urteil.

Wie kann so etwas gehen? Der heilige Ignatius spricht gerne von Indifferenz als einer Voraussetzung für gute Entscheidungen im Alltag. Indifferenz ist eine Art von Sorglosigkeit. Sie meint aber eben nicht Naivität oder Gleichgültigkeit, sondern eine Gleichmütigkeit bzw. eine Bereitschaft zu einer „engagierten Gelassenheit“.

Man kann Indifferenz vielleicht mit der Haltung des Torwarts vergleichen, der sich möglichst in der Mitte des Tores aufhält, um nach rechts oder links springen zu können, wenn der Ball kommt: Engagierte Gelassenheit. Er ist wach, aufmerksam, entschieden zu springen, aber er wird so handeln, wie es die Situation erfordert. Er hat keine Sorge, er wird den Ball fangen, aber er schaut hin.

Ignatius wird auch ein Sinnspruch zugeschrieben, der diese Haltung der engagierten Gelassenheit im Glauben formuliert: „Vertraue so auf Gott, als ob alles von dir abhinge und nichts von Gott. Handele so, als ob alles von Gott abhingen und nichts von dir.“ Diese Haltung wünsche ich Dir für die nächsten Lebensjahre, lieber Papa!

Christian Modemann SJ


Gebet von Madeleine Delbrêl:

Offenbare uns das große Orchester deiner Heilspläne,
Worin das, was du zulässt,
Einfach befremdliche Töne von sich gibt
Inmitten der Heiterkeit dessen, was dein Wille ist.
Lehre uns, jeden Tag die Umstände,
unseres Menschseins anzuziehen
Wie ein Ballkleid, das uns alles an ihm lieben lässt
Um deinetwillen, wie unentbehrlichen Schmuck.
Gib, dass wir unser Dasein leben
Nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist,
Nicht wie einen Wettkampf, bei dem alles schwierig ist,
Nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns
den Kopf zerbrechen,
Sondern wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir
immer wieder begegnet,
Wie einen Ball,
Wie einen Tanz,
In den Armen deiner Gnade,
Zu der Musik allumfassender Liebe.
Herr, komm und lade uns ein.

Dienstag, 1. November 2022

Harthörig


31. Sonntag im Jahreskreis C, Hamburg – Manresa, 30.10.22, 19 Uhr

Menschen kommen zur Kirche mit der Sehnsucht, Gott nahe zu sein, von ihm gesehen zu werden, in Beziehung zu treten. Menschen kommen mit der Erfahrung, sich fern von Gott zu fühlen, sich wie getrennt von Gott zu erleben. Manchmal ist sogar beides zugleich da, in uns selbst: die Sehnsucht und die Erfahrung der Ferne. 

Wenn Menschen sich fern von Gott fühlen und sich neu auf die Suche nach Gott begeben, dann geschieht das nicht selten in einer persönlichen Sinn-Krise, in der sie keinen Ausweg mehr finden und dann im Glauben eine neue Perspektive oder Hoffnung entdecken. Eine Frau formulierte es im Gespräch so: „Ich konnte weder vor noch zurück, sah weder rechts noch links einen Weg – und da habe ich nach oben geschaut.“ Manche entdecken in solchen Momenten, dass diese andere Perspektive oder Dimension ihres Lebens schon immer da war und dass sie tatsächlich eine Hilfe ist, wenn sie sie bewusst wahrnehmen und in ihr Leben lassen.

Der christliche Begriff dafür, sich getrennt von Gott bzw. anderen Menschen zu erleben, ist der Begriff der Sünde. Ich habe bisher nicht oft darüber gesprochen, weil es heute ein scheinbar schwieriges Thema ist – da denkt man gleich an Schuld und Schuldgefühle und so. Aber es geht hier erst einmal nicht um etwas Moralisches. Das wird im Deutschen schon vom Wort her deutlich: Das Wort „Sünde“ ist mit dem deutschen Wort „Sund“ verwandt, mit dem ein Abgrund oder ein Graben bezeichnet wird. Der Fehmarn-Sund z.B. ist der Meeresarm der Ostsee, der die Insel Fehmarn vom Festland trennt; für den Menschen unüberwindlich, wenn es nicht ein Boot oder eine Brücke gäbe.

Sünde ist etwas, das trennt, das absondert vom Leben. Sie bezeichnet dabei weniger einzelne Vergehen als vielmehr eine Haltung: sich gegen Gott wenden, sich von Gott abwenden, sich über Gott erheben wollen. Viele biblische Geschichten versuchen, dies zu verdeutlichen.

Sünde beschreibt eine Wirklichkeit, die alle Menschen erfahren, sie beschreibt die Folge und Wirkung von Ungerechtigkeit. Das kann mit eigener Schuld zu tun haben, oft aber erfahren wir die Wirkung vom ungerechten Verhalten anderer, für das ich keine Verantwortung trage, als lebensfeindlich, als etwas, unter dem ich leide. Der Krieg z.B. eine Sünde, die Menschen voneinander und vom Leben trennt; ohne dass der einzelne daran gerade etwas ändern kann. Das Unrecht anderer wirkt weiter. „Toxisch“ würde man heute sagen.

Doch welche Wirkung hat die Sünde auf den Einzelnen? Was geschieht da persönlich? Eine gute Beschreibung von Sünde findet sich im Markusevangelium. Dort heißt es bei der Begegnung von Jesus mit den Jüngern auf dem See, nach der wunderbaren Speisung (Mk 6,45-52), dass die Jünger im Boot vorausfahren, während Jesus selbst noch auf einen Berg ging, um zu beten. Die Jünger sind auf dem Boot, auf dem See, im Gegenwind, als Jesus zu ihnen kommt. Sie meinen, es sei ein Gespenst und erschrecken. Er sagt zu ihnen: „Habt Vertrauen, fürchtet euch nicht!“ Und dann fährt der Evangelist fort: „Sie aber waren bestürzt und fassungslos. Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah; ihr Herz war verstockt.“ (Mk 6,51-52)

„Ihr Herz war verstockt“. Fridolin Stier übersetzt: „Denn sie hatten bei den Broten nichts verstanden; ihr Herz war harthörig.“ Es geht um Mangel an Vertrauen, vor allem aber um fehlende Achtsamkeit, um Harthörigkeit. 

Hören ist die Grundbewegung des Glaubens, die Grundhaltung des geistlichen Weges. Das „Schema Israel“, „Höre Israel“ (Dtn 6,4-9) gehört zu den wichtigsten Gebeten des Judentums. Nicht ohne Grund heißt einer der ersten Apostel, die Jesus beruft: Simon – der Hörende. 

Wenn das Herz harthörig ist, dann ist es gefühllos, nicht mehr ansprechbar - und das darf angesprochen werden! Das Wort „verstockt“ (pōroō) meint verhärten, gefühllos machen, versteinern - pōros ist der Tuffstein.

Der Prophet Ezechiel verheißt dem Volk Gottes eine umfassende Veränderung und Befreiung (Ez 36,25-26), dass er nämlich das Herz aus Stein fortnehmen und ihnen ein Herz aus Fleisch geben wird.

Besonders gut drückt der Prophet Jesaja aus, worum es geht. Er spricht von einem „verfetteten Herzen“, das einhergeht mit Augen, die nicht sehen; Ohren, die nicht hören, „damit das Herz nicht zur Einsicht kommt, und es sich nicht bekehrt und sich so Heilung verschafft.“ (Jes 6,10) Als ob sich eine Fettschicht um den Menschen gelegt hat, so dass ihn nichts mehr erreicht, dass er gefühllos und achtlos wird.

Evagrius Pontikus schließlich, der im 4. Jahrhundert in Ägypten gelebt hat, schreibt für die Mönche in der Wüste, die mit bösen Gedanken zu kämpfen haben, dass sie sich vor allem vor dem Hochmut und dem Überdruss hüten sollen. Er hält diese beiden Gedanken, die nicht vom Guten kommen, nämlich die Überheblichkeit und die Trägheit, die Gleichgültigkeit, Lustlosigkeit, für die Wurzelsünden – später sagt man Todsünden.

Ich spreche hier nicht Depression als einer Krankheit, die körperliche Ursachen haben kann; es geht nicht darum, Schuldgefühle oder moralische Forderungen zu formulieren. Sondern es geht um die Wahrnehmung der geistlichen Versuchung der Überheblichkeit einerseits oder der Trägheit des Herzens andererseits; und ich glaube, dass nicht wenige Menschen heute diesen Gedanken folgen – und sich deshalb als von Gott getrennt erleben.

Menschen versuchen oft, dieser Trägheit durch Aktivismus zu entfliehen. Doch wenn ich selbst versuche, dem Zustand zu entrinnen, dann komme ich ins „Machen“, das häufig rein Ich-bezogen ist und mich gerade nicht in die Beziehung führt. Im Gegenteil, es schafft noch mehr Trennung. 

Evagrius Pontikus beschreibt die Erfahrung vom Getrenntsein als eine „Grundsündhaftigkeit“ des Menschen, die er durch Aktivismus versucht auszugleichen – und dadurch nur vertieft.

Erlösung geschieht, indem ich den Blick wende und mich anschauen lasse, mich vom Herrn ansprechen lasse - da, wo ich bin; ohne etwas verbergen oder verstecken zu wollen, selbst wenn ich mich schäme oder durch seinen Blick über meine eigene Situation erschüttert bin.

Das Evangelium von Lukas beschreibt dies in der Begegnung von Zachäus mit Jesus: Zachäus will Jesus sehen. Jesus schaut hinauf und sieht Zachäus an. Zachäus steigt hinunter und lässt Jesus bei sich eintreten. 

Die Erlösung von der Sünde geschieht im Perspektivwechsel, bei dem ich mich anschauen lasse, meine Angst um mich selbst loslasse. Da geschieht Bekehrung, Umkehr. Gott kommt auf uns zu, in unserer Sünde, in unserer Verstocktheit, Harthörigkeit.

Denn: "Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. […] Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens." (Weish 11,22-12,2)