Dienstag, 1. November 2022

Harthörig


31. Sonntag im Jahreskreis C, Hamburg – Manresa, 30.10.22, 19 Uhr

Menschen kommen zur Kirche mit der Sehnsucht, Gott nahe zu sein, von ihm gesehen zu werden, in Beziehung zu treten. Menschen kommen mit der Erfahrung, sich fern von Gott zu fühlen, sich wie getrennt von Gott zu erleben. Manchmal ist sogar beides zugleich da, in uns selbst: die Sehnsucht und die Erfahrung der Ferne. 

Wenn Menschen sich fern von Gott fühlen und sich neu auf die Suche nach Gott begeben, dann geschieht das nicht selten in einer persönlichen Sinn-Krise, in der sie keinen Ausweg mehr finden und dann im Glauben eine neue Perspektive oder Hoffnung entdecken. Eine Frau formulierte es im Gespräch so: „Ich konnte weder vor noch zurück, sah weder rechts noch links einen Weg – und da habe ich nach oben geschaut.“ Manche entdecken in solchen Momenten, dass diese andere Perspektive oder Dimension ihres Lebens schon immer da war und dass sie tatsächlich eine Hilfe ist, wenn sie sie bewusst wahrnehmen und in ihr Leben lassen.

Der christliche Begriff dafür, sich getrennt von Gott bzw. anderen Menschen zu erleben, ist der Begriff der Sünde. Ich habe bisher nicht oft darüber gesprochen, weil es heute ein scheinbar schwieriges Thema ist – da denkt man gleich an Schuld und Schuldgefühle und so. Aber es geht hier erst einmal nicht um etwas Moralisches. Das wird im Deutschen schon vom Wort her deutlich: Das Wort „Sünde“ ist mit dem deutschen Wort „Sund“ verwandt, mit dem ein Abgrund oder ein Graben bezeichnet wird. Der Fehmarn-Sund z.B. ist der Meeresarm der Ostsee, der die Insel Fehmarn vom Festland trennt; für den Menschen unüberwindlich, wenn es nicht ein Boot oder eine Brücke gäbe.

Sünde ist etwas, das trennt, das absondert vom Leben. Sie bezeichnet dabei weniger einzelne Vergehen als vielmehr eine Haltung: sich gegen Gott wenden, sich von Gott abwenden, sich über Gott erheben wollen. Viele biblische Geschichten versuchen, dies zu verdeutlichen.

Sünde beschreibt eine Wirklichkeit, die alle Menschen erfahren, sie beschreibt die Folge und Wirkung von Ungerechtigkeit. Das kann mit eigener Schuld zu tun haben, oft aber erfahren wir die Wirkung vom ungerechten Verhalten anderer, für das ich keine Verantwortung trage, als lebensfeindlich, als etwas, unter dem ich leide. Der Krieg z.B. eine Sünde, die Menschen voneinander und vom Leben trennt; ohne dass der einzelne daran gerade etwas ändern kann. Das Unrecht anderer wirkt weiter. „Toxisch“ würde man heute sagen.

Doch welche Wirkung hat die Sünde auf den Einzelnen? Was geschieht da persönlich? Eine gute Beschreibung von Sünde findet sich im Markusevangelium. Dort heißt es bei der Begegnung von Jesus mit den Jüngern auf dem See, nach der wunderbaren Speisung (Mk 6,45-52), dass die Jünger im Boot vorausfahren, während Jesus selbst noch auf einen Berg ging, um zu beten. Die Jünger sind auf dem Boot, auf dem See, im Gegenwind, als Jesus zu ihnen kommt. Sie meinen, es sei ein Gespenst und erschrecken. Er sagt zu ihnen: „Habt Vertrauen, fürchtet euch nicht!“ Und dann fährt der Evangelist fort: „Sie aber waren bestürzt und fassungslos. Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah; ihr Herz war verstockt.“ (Mk 6,51-52)

„Ihr Herz war verstockt“. Fridolin Stier übersetzt: „Denn sie hatten bei den Broten nichts verstanden; ihr Herz war harthörig.“ Es geht um Mangel an Vertrauen, vor allem aber um fehlende Achtsamkeit, um Harthörigkeit. 

Hören ist die Grundbewegung des Glaubens, die Grundhaltung des geistlichen Weges. Das „Schema Israel“, „Höre Israel“ (Dtn 6,4-9) gehört zu den wichtigsten Gebeten des Judentums. Nicht ohne Grund heißt einer der ersten Apostel, die Jesus beruft: Simon – der Hörende. 

Wenn das Herz harthörig ist, dann ist es gefühllos, nicht mehr ansprechbar - und das darf angesprochen werden! Das Wort „verstockt“ (pōroō) meint verhärten, gefühllos machen, versteinern - pōros ist der Tuffstein.

Der Prophet Ezechiel verheißt dem Volk Gottes eine umfassende Veränderung und Befreiung (Ez 36,25-26), dass er nämlich das Herz aus Stein fortnehmen und ihnen ein Herz aus Fleisch geben wird.

Besonders gut drückt der Prophet Jesaja aus, worum es geht. Er spricht von einem „verfetteten Herzen“, das einhergeht mit Augen, die nicht sehen; Ohren, die nicht hören, „damit das Herz nicht zur Einsicht kommt, und es sich nicht bekehrt und sich so Heilung verschafft.“ (Jes 6,10) Als ob sich eine Fettschicht um den Menschen gelegt hat, so dass ihn nichts mehr erreicht, dass er gefühllos und achtlos wird.

Evagrius Pontikus schließlich, der im 4. Jahrhundert in Ägypten gelebt hat, schreibt für die Mönche in der Wüste, die mit bösen Gedanken zu kämpfen haben, dass sie sich vor allem vor dem Hochmut und dem Überdruss hüten sollen. Er hält diese beiden Gedanken, die nicht vom Guten kommen, nämlich die Überheblichkeit und die Trägheit, die Gleichgültigkeit, Lustlosigkeit, für die Wurzelsünden – später sagt man Todsünden.

Ich spreche hier nicht Depression als einer Krankheit, die körperliche Ursachen haben kann; es geht nicht darum, Schuldgefühle oder moralische Forderungen zu formulieren. Sondern es geht um die Wahrnehmung der geistlichen Versuchung der Überheblichkeit einerseits oder der Trägheit des Herzens andererseits; und ich glaube, dass nicht wenige Menschen heute diesen Gedanken folgen – und sich deshalb als von Gott getrennt erleben.

Menschen versuchen oft, dieser Trägheit durch Aktivismus zu entfliehen. Doch wenn ich selbst versuche, dem Zustand zu entrinnen, dann komme ich ins „Machen“, das häufig rein Ich-bezogen ist und mich gerade nicht in die Beziehung führt. Im Gegenteil, es schafft noch mehr Trennung. 

Evagrius Pontikus beschreibt die Erfahrung vom Getrenntsein als eine „Grundsündhaftigkeit“ des Menschen, die er durch Aktivismus versucht auszugleichen – und dadurch nur vertieft.

Erlösung geschieht, indem ich den Blick wende und mich anschauen lasse, mich vom Herrn ansprechen lasse - da, wo ich bin; ohne etwas verbergen oder verstecken zu wollen, selbst wenn ich mich schäme oder durch seinen Blick über meine eigene Situation erschüttert bin.

Das Evangelium von Lukas beschreibt dies in der Begegnung von Zachäus mit Jesus: Zachäus will Jesus sehen. Jesus schaut hinauf und sieht Zachäus an. Zachäus steigt hinunter und lässt Jesus bei sich eintreten. 

Die Erlösung von der Sünde geschieht im Perspektivwechsel, bei dem ich mich anschauen lasse, meine Angst um mich selbst loslasse. Da geschieht Bekehrung, Umkehr. Gott kommt auf uns zu, in unserer Sünde, in unserer Verstocktheit, Harthörigkeit.

Denn: "Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. […] Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens." (Weish 11,22-12,2)


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