Montag, 24. Februar 2025

Zwischenraum



Predigt 7C 23.2.2025 Hamburg Manresa

Les: 1Sam 26, 2-23; 1Kor 15, 45–49; Lk 6, 27–38.

Vor einigen Tagen habe ich ein Foto aus Finnland gesehen. Es zeigt Menschen, die vor einem Wahllokal warten. So wie Sie es vielleicht auch heute gemacht haben. Das Besondere auf dem Foto: die Menschen stehen draußen in der Schlange mit großem Abstand, etwa 20 Menschen sind es. Die Beobachtung: jede Kultur hat ihre Eigenheiten, und in Finnland gehört es offenbar dazu, mehr Abstand („personal space“) voneinander zu halten als in anderen Ländern.

Näher und Distanz sind Teil des menschlichen Lebens. Keiner kann allein leben; aber wir sind und bleiben Individuen, mit einer eigenen Geschichte und einer Persönlichkeit und mit einer persönlichen Verantwortung. Alle Menschen sehnen sich in einer gewissen Weise nach Anerkennung und nach Nähe, nach Gemeinschaft. Gleichzeitig brauchen wir unseren Freiraum, unsere Freiheit, unseren Abstand, und der ist von Kultur zu Kultur, von Mensch zu Mensch verschieden. Haben Sie schon einmal bemerkt, dass Ihnen im Gespräch jemand zu nahegekommen ist? Oder dass sie vielleicht sich mehr Nähe gewünscht hätten? Wie viel Distanz brauche ich selbst? Wieviel Nähe bin ich bereit, zuzulassen?

Aggression ist eine schlechte Weise der Annäherung. Aggredere bedeutet im Lateinischen: nahe herangehen. Man nähert sich, um den anderen zu bedrohen oder um ihm zu schaden. In diesen Tagen haben wir viel Aggression erlebt. In der Ferne, im Heiligen Land oder in der Ukraine, aber auch auf andere Weise bei uns im Wahlkampf. Gerade in den letzten Tagen ist mir aufgefallen, wie viele Wahlplakate beschmiert sind, die Gesichter verunstaltet. Auch das ist eine Form von Aggression. 

Eine gute Weise der Annäherung ist es, sich einander die Hand zu reichen. Wenn Kandidaten zum Beispiel nach der Wahl aufeinander zugehen, sich gegenseitig gratulieren, die Wahl anerkennen und sich Gedanken darüber machen, wie sie fort an Zusammenleben können. Denn darum geht es doch: wir wollen leben, und das können wir nur miteinander. Nicht gegeneinander!

Von Nähe und Distanz und einer guten Weise der Annäherung erzählen uns die heutigen biblischen Texte. Sie sind das Wort Gottes für uns.

Die Lesung aus dem ersten Samuel-Buch ist ein Meisterstück orientalischer Erzählkunst. Das Buch berichtet, wie David anstelle von Saul zum König aufsteigt. Es geht um Macht und Konkurrenz zwischen Männern, aber auch um die Frage, was es braucht, um ein guter König zu sein, und wer wirklich dazu berufen ist. 

Die biblische David-Geschichte ist keine Heldenverehrung, sie spart nicht mit Kritik an David. Aber David ist eben von Gott trotz seiner Schattenseiten auserwählt als Nachfolger von Saul; und er nimmt diese Berufung und Verantwortung an. Die Erzählung beschreibt, wie Auseinandersetzungen um die Macht ausgetragen werden sollen. Das Leben des Gegners ist wertvoll, weil das Leben in den Augen Gottes wertvoll ist.

Schauen wir auf Nähe und Distanz: David nähert sich dem Heerlager Sauls. Er nährt sich Saul, er könnte ihn mit einem einzigen Stoß mit dem Speer töten. Doch er respektiert die Grenze, die Sauls Leben und seine körperliche Unversehrtheit schützt.

Das ist der Unterschied zu einem Gewalttäter, der diese Grenze überschreitet. Psychologen sagen: Oft sind Gewalttäter aggressionsgehemmte Typen. Denn nur wer die Fähigkeit zum Konflikt und zur Auseinandersetzung entwickelt, kann für sich auch die Grenzen setzen und respektieren.

David geht, nachdem er sich Saul genähert hat, auf Distanz zum König. „David ging auf die andere Seite hinüber und stellte sich in großer Entfernung auf den Gipfel des Berges, so dass ein Zwischenraum zwischen Ihnen war.“ (1Sam 26,13). Zudem ruft er im Morgengrauen dann zunächst den Heerführer Abner an und spricht Saul nicht direkt selbst an, obwohl er weiß, dass Saul zuhört. Dieser Teil wurde in der heutigen Lesung gekürzt. Saul erkennt dann die Stimme Davids und er erkennt, dass David sein Leben kostbar war und er selbst falsch gehandelt hat, indem er David töten wollte. Es kommt zu einem Segen des Königs für David, Rache weicht der Versöhnung.

*

Im Evangelium aus der Feldrede bei Lukas stellt Jesus dar, wie er sich das Zusammenleben der Menschen vorstellt. Es geht zunächst einmal um das Zusammenleben des Volkes Israel, als des von Gott auserwählten Volkes; dann aber auch um das Zusammenleben von Völkern allgemein. Jesus zeigt eine neue Form, Nähe und Distanz zu leben.

Die Feindesliebe, die er beschreibt, ist gerade nicht nur eine unrealistische Vision, eine ferne Utopie, sondern sie zeigt meines Erachtens eine Haltung auf, wie wir in der Nähe miteinander gleichzeitig eine gute Distanz leben können. Die Feldrede ist meines Erachtens ganz praktische Lebensweisung.

Wir kennen das alle: Konflikte, Ärger, die Gedanken kreisen, ich bin verletzt worden, habe Unrecht erlitten, oder gesehen, wie Unrecht geschehen ist. Das kann ich nicht so stehen lassen! Das kann ich nicht akzeptieren! Hass und Wut entstehen. Und dann? Lieben? Wie soll das möglich sein?

Liebt eure Feinde, das ist die Perspektive, das Ziel. Und der erste konkrete Schritt dazu: segnen und beten! In dem ich den anderen oder die andere der Barmherzigkeit Gottes anempfehle, schaffe ich eine Distanz zwischen uns. Ich muss kein Urteil sprechen: du, Gott, wirst das Urteil sprechen! Ich kann nicht mehr: jetzt bist du dran, Gott! Ich will, dass es der anderen Person gut geht, dass sie lebt, aber ich werde mich nicht mehr darum kümmern, das sollst bitte du machen, Gott! Ein Segen ist immer ein Abschied und ein Abschied schafft Distanz!

Die andere Wange hinhalten oder auch das Hemd zu geben, wenn um den Mantel gebeten wird, ist vielleicht auf den ersten Blick wieder eine Form der Annäherung bzw. Aggression, die die Grenze der Gewaltfreiheit respektiert. Auf den zweiten Blick jedoch wird meine eigene Freiheit deutlich, anders zu handeln, als der Gegner es erwartet.

Das Gestohlene nicht zurückzufordern bedeutet, eine Form der Distanz zu allen irdischen Gütern zu schaffen, die letztlich nur relativen Wert haben.

Nicht richten, nicht verurteilen, Schuld erlassen, alles das schafft immer wieder Distanz. Es entsteht ein Zwischenraum, in dem Kommunikation möglich ist, in dem Gott wirken kann und Veränderung und Einsicht wachsen.

Das ist wirklich Glück, die „Lücke“ zu finden! Diesen Blick nach oben zu wagen: „euer Lohn wird groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein“. Und Gottes Blick wahrzunehmen, „denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“.

Nähe und Distanz gehören zum Leben. Jesus zeigt uns einen Weg, wie wir auf gute Weise miteinander leben können, durch Barmherzigkeit und Vergebung. Wie Nähe und Distanz zwischen immer mehr Menschen auf dieser Erde auf eine gute Weise möglich ist. Wie wir gleichzeitig bei uns selbst bleiben und mit anderen Menschen in Beziehung treten können: Indem wir uns nach dem Bild des Himmlischen gestalten und formen lassen. Amen.