Montag, 18. April 2022

Sucht den Lebenden nicht bei den Toten!


Predigt Manresa Ostersonntag 2022

Liebe Schwestern und Brüder,
heute werden drei Erwachsene getauft und gefirmt. Sie haben sich in Gesprächen und in einem Glaubenskurs darauf vorbereitet. Sie haben die Grundlagen des christlichen Glaubens kennen gelernt, die Geschichte des Heils, wie sie uns in der Bibel überliefert ist, die Sakramente und die christliche Lebensweise. Zum Glauben braucht es auch eine Einübung in die Praxis des Glaubens, in das Gebet, die Feier der Liturgie und an der Gemeinschaft der Kirche, in den Dienst an den Notleidenden. 
Doch das alles reicht nicht, so sehr wir uns auch anstrengen, um den christlichen Glauben vollständig zu begreifen und zu erfassen. Das vergangene Jahr war ein Anfang, ein gelungener Beginn trotz mancher Schwierigkeiten; vieles werden sie erst noch entdecken und vertiefen. 
Doch so geht es wohl vielen im Glauben. Fertig ist man damit nie. Das gilt vor allem für Ostern, das Fest der Auferstehung des Herrn, die Mitte unseres Glaubens. Jesus hat den Tod überwunden. Ist das zu begreifen? Was bedeutet das für uns? Was bedeutet Ostern in diesem Jahr angesichts der vielen schrecklichen Kriegsereignisse, der Nachrichten über Verbrechen und Tod mitten in Europa, vor denen wir ratlos stehen und bestürzt. 
Von Anfang an war Ostern die große Irritation angesichts von Gewalt und Hass: Es ist ein Ereignis, das bisher nur einmal in der Geschichte der Menschheit geschehen ist, großartig, neu und das den Verstand und die Vorstellungen übersteigt. Die Frauen, die am Grab stehen, können es angesichts des grausamen Todes ihres geliebten Freundes und Meisters nicht begreifen. Sie stellen sich die Frage, welchen Sinn das alles haben kann. Sie finden nicht einmal mehr seinen Leichnam, um ihn salben und auf rechte Weise beisetzen zu können. Fremde Männer sprechen sie an. Sie erschrecken und blicken zu Boden. Die nächste furchtbare Nachricht? Was soll da noch alles kommen?
Und doch versuchen Christen von Anfang an, diese Botschaft anderen weiterzusagen, obwohl oder weil sie alles übersteigt, was sie bisher gekannt und verstanden haben. Sie versuchen zu begreifen und zu erfassen, was sich doch offenbar nur schwer verstehen lässt. Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Sie erkennen: Es geht nicht nur um eine alte Geschichte, sondern um eine Erfahrung damals, auf die sie bauen können und die ihrem Leben eine neue Richtung gibt. Die Rettung schenkt. Sie versuchen diese Erfahrung zu verstehen und zu deuten. 
Schon bald beziehen sich Christen dabei auf den alten Mythos von Orpheus und Eurydike. Sie kennen die Geschichte vielleicht: Orpheus, der wundervolle Sänger, hatte seine geliebte Frau, die Nymphe Eurydike verloren, die kurz nach der Hochzeit durch einen Schlangenbiss starb. Sie kam, wie alle Toten, in die Unterwelt, die der Gott Hades bewachte. Und dann fängt dieser Mythos an, von einer alten Frage zu erzählen, die so alt ist wie die Menschheit, nämlich die Frage: Was ist am Ende stärker, der Tod oder die Liebe? Orpheus liebt seine Frau und er möchte, dass sie lebt. So macht er sich selbst auf den Weg in die Unterwelt und bittet darum, dass seine Frau zum Leben zurückkommt, dass er sie aus der Unterwelt und dem Reich der Schatten mitnehmen kann, zurück auf die Erde. Er trägt seine Bitte mit Gesang vor, begleitet von der Lyra. Der Gott Hades und die Göttin Persephone sind durch seinen Gesang so verzaubert, dass sie ihm die Bitte ausnahmsweise gewähren – unter einer Bedingung: Er darf sich nicht umschauen, ob seine Gattin ihm folgt, bis sie zurück im Leben sind. 
Orpheus ist getragen von der Hoffnung, doch je länger der Weg dauert und je größer die Sehnsucht nach der Geliebten ist, umso mehr sind auch die Zweifel, ob Eurydike da ist, ob sie ihm folgt, ob sich die Mühe gelohnt hat. Und so schaut sich der unvergleichliche Sänger nach ihr um – und sofort schwebt Eurydike zurück in die Unterwelt. Zum zweiten Male stirbt sie den Tod. Die Möglichkeit ist vertan, zurück bleibt der unglückliche Orpheus. Orpheus scheitert. Und die Botschaft dieses Mythos ist tragisch: Aus der Sicht des Menschen behält immer der Tod die Oberhand. 
Wenn Sie in die Domitillakatakomben gehen oder in die von Petrus und Marzellus, dann finden Sie dargestellt Christus als den liebenden Spielmann Gottes, den Christus-Orpheus, und die, die er liebt, ist Eurydike, die Menschheit. Alle biblischen Traditionen sagen, sie ist hineingeraten in Herrschaftsbereiche vielfältiger Tode – vor dem Tod, im Tod, nach dem Tod. Wie im alten Mythos taucht schon wieder die Frage auf: Ist das Schicksal der Geliebten wirklich der Tod oder ist nicht doch die Liebe stärker? Clemens von Alexandrien, der diesen Mythos kennt, erzählt: Christus steigt hinab in die Unterwelt - hinabgestiegen in das Reich des Todes. Doch anders als der griechische Orpheus scheitert der Christus-Orpheus nicht und vermag Eurydike zurückzulieben in das Land der Hoffnung und der Auferstehung. 
Drei Aspekte scheinen mir an dieser altkirchlichen Deutung von Ostern bemerkenswert. Sie helfen uns heute, das Geheimnis von Ostern mehr zu verstehen; auch wenn wir es nie ganz begreifen und erfassen werden.
1. Jesus Christus hat den Tod besiegt. Durch seine Auferstehung hat er nicht nur selbst neues Leben, sondern er führt alle, die zu ihm gehören in sein Reich. Das sagt das Bild vom Abstieg in das Reich des Todes. Da geht es um unsere Toten, unsere Familien und Freunde, die Kriegstoten in der Ukraine und letztlich auch uns selbst. Er hat den Feind ein für alle Mal besiegt. Deshalb brauchen wir keine Angst mehr zu haben. Er ist der gute Hirt, der uns liebt. Er liebt uns zu Gott. Er ist der Bruder aller Menschen. Er führt uns zu Gott, der zu uns sagt: Du bist mein geliebtes Kind, mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter. 
 2. Wie Orpheus, so hat auch Jesus Christus ein Instrument in seiner Hand, auf dem er spielt und an dem er Freude hat. Er liebt die Menschen, ohne daran zu zweifeln, dass sie ihm folgen. Clemens sagt, diese Lyra ist die Kirche. Wenn sie sich von ihm in Dienst nehmen lässt, wenn sie zu einem Instrument in seiner Hand wird, dann kann Jesus Christus die Menschen aus der Unterwelt und dem Tod führen. 
3. Und schließlich, so möchte ich ergänzen: Dieses Instrument besteht aus vielen verschiedenen Saiten, die in Schwingungen geraten. Jede einzelne und alle zusammen. Wenn wir selbst einschwingen in die göttliche Musik, die uns umgibt und die in uns ist, wenn wir mit den "good vibrations" leben, in die Christus uns versetzt, dann werden wir selbst als liebende Menschen leben und so dabei mithelfen, andere aus dem Tod zu retten. Ein Liebesgedicht von Rainer Maria Rilke endet mit diesem Vergleich: „Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Geiger hat uns in der Hand?“ 
Um als Saite zu schwingen, braucht es die rechte Spannung (nicht zu viel und nicht zu wenig), um das Leben nach der Melodie und Tonart Jesu auszurichten. Das Leben soll stimmig werden, in der Gemeinschaft der Glaubenden; eine vielstimmige Melodie, miteinander verbunden zu einer Einheit. Das wünsche ich Ihnen, die heute getauft werden, und uns allen. Amen.

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