Karfreitag 2020 - Hamburg, im leeren Kleinen Michel
Liebe Schwestern und Brüder,
die vergangenen Wochen waren für
viele Menschen eine ganz andere Fastenzeit, als sie es gewohnt sind oder
erwartet haben. Die Welt ist krank. Das gilt auch trotz des schönen Wetters und
der blühenden Natur um uns herum. Die Welt ist krank - und das verändert unsere
Wahrnehmung.
1 - In der Unterbrechung ihres
alltäglichen Lebens erleben sich viele Menschen auf eine andere, ungewohnte
Weise. Sie entdecken in sich eine Menge von Emotionen, Gedanken, und Ängsten,
die sonst gut verborgen sind. Das irritiert und macht viele dünnhäutiger,
verletzlicher.
2 - In dieser Fastenzeit sprechen
uns die biblischen Texte von Heil und Heilung manchmal viel unmittelbar an. Die
biblischen Texte geben Trost und Halt, vor allem aber öffnen sie Menschen für
die Gemeinschaft im Glauben über die Jahrhunderte hinweg, wie es sonst nur
selten in der Fastenzeit geschieht.
3 - Es wird uns plötzlich bewusst,
wie verletzlich unser Leben ist. Wie vergänglich die Sicherheiten, die wir
aufgebaut haben. Gegen einen Virus ließ man sich impfen oder installierte einen
Virenscanner. Und jetzt geht es „um Leben und Tod“, sagen und die Politiker.
Einige gewinnen einen Blick für das Geschenk des Lebens und für das, was
wirklich wichtig ist.
4 - Wir sehen das Leiden von
Menschen. Zuerst in China, Italien und Spanien, und nun auch bei uns. Wir sehen
Menschen in den Krankenhäusern, in den überfüllten Flüchtlingscamps, in den
Slums der Mega-Städte dieser Welt. Wir sehen ungerechtes Leiden, den Tod von
unschuldigen Menschen, den Tod von Menschen, die wir lieben. Warum? Warum so
viel Leid? Warum dieser Tod?
Es ist diese Frage, die uns mit
der Passionserzählung der Christen von vor 2000 Jahren verbindet. Warum so viel
Leid? Warum dieser Tod? Diese Fragen stelle ich auch an Johannes, der dieses
Evangelium schrieb, das wir gerade gehört haben, im Blick auf den Tod Jesu. Denn
hier stirbt ein unschuldig Gerechter auf grausame Weise. Was hat das für einen
Sinn? Warum kann Gott dies zulassen?
Man kann nach Gründen suchen, und
wird sie auch finden. Damals waren ist der religiöse Starrsinn der führenden
Männer der Juden, die keine andere Interpretation des Gesetzes duldeten,
gemischt mit einer brutalen politischen Ordnung, die durch Korruption
funktionierte und Störungen nicht zulassen wollte. Heute ist es der verrückte
Wahnsinn des Handels mit Wildtierfleisch, der den Schrei der Schöpfung nicht
hört, gemischt mit einer globalen wirtschaftlichen Ordnung, die durch
Korruption funktioniert und Störungen nicht zulassen will.
Doch diese Suche nach Ursachen
und Gründen hilft uns nicht im Blick auf das unschuldige Leiden eines einzelnen
Menschen. Sie tröstet uns nicht, und sie beantwortet nicht unsere Fragen
angesichts des Todes: Wie sollen wir reagieren? Welche Haltung können wir im
Glauben annehmen? Wo finden wir Trost?
In der langen Passionserzählung
des Johannes, die den ganzen Weg Jesu von der Verhaftung, über die zwei Verhöre
vor Hannas und Pilatus bis zur Verurteilung und Hinrichtung detailliert
berichtet, fehlt merkwürdigerweise die Reaktion auf den Tod Jesu. Jesus neigt
das Haupt und gibt seinen Geist auf und dann … nichts. Kein Schrei, kein
Erdbeben, kein Donner, kein Tempelvorhang, der zerreißt, kein Weinen, … nichts.
„Es ist vollbracht“ oder - wie Fridolin Stier übersetzt - „Es ist ans Ziel
gekommen.“ Danach wird nur noch berichtet, wie der Leichnam Jesu vom Kreuz
abgenommen und bestattet wird. Merkwürdig. Warum diese Leerstelle in der Erzählung.
Warum erzählt Johannes nicht weiter?
In den anderen Evangelien wird
die Reaktion von Menschen berichtet, wie zum Beispiel jene des römischen
Hauptmanns, der Jesus sterben sah und angesichts der Art und Weise seines Todes
ausrief: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ (Mk 15,39)
Warum gibt uns Johannes nichts,
dass wir wenigstens eine Idee bekommen, wie wir uns angesichts des Leidens und
Todes verhalten können, d.h. welche Haltung wir einnehmen können?
Doch, er tut es. Ich habe es
zunächst übersehen. Zwei Menschen stehen unter dem Kreuz: Johannes und Maria.
Jesus spricht sie an. In dem Wort, das er spricht, gründet er die Kirche als
eine neue Gemeinschaft, in der die familiären Banden überschritten werden. In
der wir einander Bruder, Schwester und Mutter werden.
Vor allem aber lädt uns Johannes
mit diesen zwei Menschen zu einer Haltung gegenüber dem Kreuz ein. Stehen. Nicht
knien, nicht sich verneigen, nicht sitzen, sondern stehen, aufrecht,
aufrichtig, und nicht weglaufen. Wenn wir so das Kreuz betrachten, werden wir eine
Haltung auch zu der Frage nach dem ungerechten Leiden einnehmen können. Ich
will in drei Punkten erläutern, was für mich diese Haltung charakterisiert.
1 - Wenn du Jesus stehend
anschaust, dann nimmst du die gleiche Haltung ein wie er. Du kannst ihm in die
Augen schauen und du wirst du sehen, er ist wie du. Er ist ein Mensch, er kennt
die Schmerzen und das Leid. Er kennt die Grenzen und die Versuchung. Er hat
einen Leib und er kann fühlen und denken wie du. Er ist wie du.
2 - Wenn du unter dem Kreuz
stehst, wirst du sehen, wie er den Schmerz annimmt. Er hat sich gewehrt, er hat
gekämpft, er hat zum Vater gebetet und gefleht. Im entscheidenden Moment aber
lässt er die Angst los und nimmt den Schmerz an. Im Vertrauen auf Gott.
3 - Wenn du unter dem Kreuz
stehen bleibst, wirst du sehen: die Liebe ist stärker als der Tod. Denn dieser
Tod ist ungerecht, aber er geschieht in Liebe. Jesus Christus stirbt nicht in
ein Nichts, sondern er ist in Gott selbst hinein gestorben. Die Art und Weise,
wie er den Tod auf sich genommen hat, übersteigt jeden Egoismus, jede falsche
Ruhmsucht, jede Angst um sich selbst. Es siegt das Leben, denn es siegt die Liebe.
„In der Stille des Mitleidens
verstehen wir besser, warum Jesus gekreuzigt gestorben ist“, so sagte der
Dominikaner Pierre Claverie, Bischof von Oran, der 1996 in Algerien umgebracht
wurde. „In der Stille des Mitleidens verstehen wir besser, warum Jesus
gekreuzigt gestorben ist. Er hat die Arme ausgebreitet, um Erde und Himmel zu
versöhnen und die verstreuten Kinder Gottes zu versammeln. Er stellt unsere
Kirche auf eine der Linien der Brüche der Menschlichkeit, zerrissen durch seine
Berufung zur universellen Versöhnung und von der Hoffnung auf Auferstehung.“[1]
Das Kreuz, so Claverie, ist wie ein Balken, der die Brüche und Risse unserer
Welt überwinden kann und Versöhnung stiftet, untereinander und mit Gott.
Wir werden gleich, im Anschluss
an diese Predigt, hier im Kleinen Michel das Kreuz verehren. Wir werden uns
niederknien vor dem Kreuz. Ich lade Sie ein, dass Sie jetzt ein Kreuz, das sie
ihrer Wohnung haben, anschauen. Und dass Sie eine eigene Haltung suchen, in der
sie sie sich dem Kreuz nähern und das Kreuz verehren möchten. Der Evangelist Johannes
lädt uns zum aufrechten Stehen ein. Amen.
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