Predigt am Fest des hl. Ignatius, Hamburg 2025 „Den Seelen helfen“
Les: Jer 20,7–9; 1
Kor 10,31–11,1; Lk 14,25–33
Zusammenfassung: Ignatius hat den Zusammenhang zwischen Spiritualität und Psychologie aufgezeigt, aus seiner eigenen geistlichen Erfahrung heraus.
Wenn wir heute, an diesem
Festtag, an den hl. Ignatius denken, dann können wir uns daran erinnern, dass
Ignatius „den Seelen helfen“ wollte und so –vor nun 500 Jahren - auf den
Zusammenhang zwischen Spiritualität und Psychologie hingewiesen hat, lange
bevor es diese beiden Forschungs- bzw. Wissenschaftsbereiche gab.
1/ Den Seelen helfen – die
Grundintuition und Sendung des hl. Ignatius
Seine Grundintention war es, „den
Seelen zu helfen“, d.h. andere zu unterstützen, damit sie psychisch / seelisch
gesund und heil werden, innerlich und geistlich wachsen und den Sinn ihres
Lebens finden. So steht es in den Satzungen der von ihm gegründeten
Ordensgemeinschaft, der Jesuiten: „Das Ziel dieser Gesellschaft ist, sich nicht
nur mit der göttlichen Gnade der Rettung und Vervollkommnung der eigenen Seelen
zu widmen, sondern sich mit derselben Gnade inständig zu bemühen, zur Rettung
und Vervollkommnung der Seele der Nächsten zu helfen.“ (Sa 2).
Sich um das Heil und die
Vervollkommnung der eigenen Seele zu sorgen, das ist jedem Christen auferlegt,
den Mönchen und Ordensleuten sowieso – das ist also nichts Besonderes. Aber sich
den anderen zuwenden und ihnen für ihr Heil und ihre Vervollkommnung der Seele
zu helfen, das ist die apostolische Aufgabe, der Existenzgrund der Gesellschaft
Jesu und ihr „sehr eigentliches Ziel.“ (Sa 603).
„Den Seelen helfen“ – diese
Aufgabe ist von der Erfahrung des Ignatius in Manresa im Jahr 1522 her zu
verstehen, wo er fast ein Jahr lang gebetet und gefastet hat, viele Eingebungen
und Erkenntnisse hatte, viel Freude und Trost, aber auch viele Abgründe und
Traurigkeit erlebte und wo er in seinen geistlichen Fragen und Nöten keine
Hilfe bekam. Er fand keinen geeigneten Beichtvater und niemand, der ihm
beistehen konnte, um zu verstehen, was in ihm vorging. Er erlebte sehr schwere
Zeiten von Trostlosigkeit und Depression bis hin zur Verlorenheit und
Selbstmordgedanken. Er hatte Hilfe und Heilung nötig.
Er ging einen sehr steinigen und
– wie er im Nachhinein sagte – gnadenvollen Weg, weil ihn Gott selbst belehrte,
wie ein Lehrer seinen Schüler. Er hat erkannt, was in der Seele eines Menschen
vorgehen kann, der sich auf den Weg zu Gott begibt. Und er wollte, dass diese
geistlichen Erfahrungen anderen zugutekommen.
Auf welche Weise wollte er den
Seelen helfen? Durch Spiritualität! Dieses Wort wird heute viel verwendet. Für
Ignatius meint Spiritualität das persönliche Gebet, die Hinwendung zu Gott in
der Stille und im Dienst am Nächsten, an den Armen und Kranken, die geistlichen
Gespräche, die Reflexion der eigenen Erfahrungen; kurz: das Wirken des Heiligen
Geist in der eigenen Seele und im eigenen Leben zu erkennen und in einer
persönlichen Gottesbeziehung zu leben. Gott ist da und er sorgt sich um jede
und jeden einzelnen. Die Unterscheidung der Geister ist ihm dabei zu einer
hilfreichen und wirksamen Methode geworden.
Selbstverständlich zu dieser Zeit
gehörte die religiöse Praxis der Kirche dazu: Ignatius nahm am Leben der Kirche
teil, empfing die Sakramente, hielt die Buß- und die Feiertage, respektierte das
Lehramt, teilte die grundlegenden christlichen und moralischen Werte. Aber letztlich
ging es ihm nicht allein um eine religiöse Praxis und Tradition, sondern es
ging ihm um die persönliche geistliche Dimension des Lebens.
2/ Den Seelen helfen – Sendung
heute
Der Zusammenhang zwischen
Spiritualität und Psychologie wurde in den letzten Jahren in der Wissenschaft
genauer untersucht. Seit der Aufklärung und nochmal stärker seit der Begründung
der modernen Psychotherapie am Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine große
Distanz zwischen diesen beiden Wissenschaftszweigen, ja sogar eine Ablehnung,
sich mit der geistlichen Dimension des menschlichen Lebens auseinanderzusetzen.
Spiritualität wurde als eine persönliche Meinung und Ansicht, vielleicht noch als
eine zeitweise hilfreiche Praxis der Vertröstung angesehen; ihr wurde jedoch
keine heilende Wirkung zugeschrieben; jedenfalls keine, die wissenschaftlich
relevant war.
Spätestens mit der Erforschung
von „spiritual care“, d.h. spirituellen Sorge im Pflegebereich im Krankenhaus,
wurde das Thema neu gesetzt. Heute gibt es anerkannte Forschungen darüber, dass
Spiritualität, d.h. die persönlich gelebte geistige Dimension des eigenen
Lebens, eine heilsame Wirkung hat. So ist z.B. nachgewiesen geworden, dass bei
Menschen, die zur Depression neigen, kein anderer Faktor so nachhaltig vor
Depression schützt wie eine gelebte Spiritualität. (vgl. Lisa Miller, Das
erwachte Gehirn, 2022)
Es bedeutet nicht, dass
spirituelle Menschen nicht depressiv werden können oder dass andere
Hilfsmittel, wie z.B. Medikamente, gegen Depression nicht helfen würden. Aber
viele anerkannte Studien zeigen, dass spirituelle Menschen eher vor
Depressionen geschützt sind als andere.
In unserer Welt heute gibt es
viele Menschen, die psychologische, seelische Hilfe suchen und Beistand
brauchen. Die Zahl der psychisch kranken Kinder und Jugendlichen hat in den
letzten Jahren nach Corona in Deutschland erschreckend zugenommen, viele
Menschen leider unter Depressionen; in den USA nehmen ein Viertel aller
Menschen während ihres Lebens Psychopharmaka, einige über viele Jahre.
Wir können uns fragen: Kann die
seelische Not so vieler Menschen nicht vielleicht ein Hinweis darauf sein, dass
es an geistlicher Orientierung und schlicht an Spiritualität fehlt? Hat nicht
der Verlust der Religion zu einer Sinnkrise geführt, die nun in seelischer Not
ihren Ausdruck findet?
Ich sage nicht, dass die fehlende
Spiritualität die Ursache für alle seelischen Erkrankungen ist oder dass
Spiritualität im Alltag das Allheilmittel sei. Aber könnte es nicht ein
wichtiges Heilmittel sein?
3/ Zielgerichtetes und spirituelles Denken verbinden – in aller Freiheit
Spiritualität ist kein
Allheilmittel. Es gibt es überall so große Not, nicht nur seelische Not,
sondern auch leibliche Not, gerade heute: Die Kriege, vielen Menschen auf der
Flucht, der Hunger in Afrika, die Gewalt in Lateinamerika und so fort.
In großer Notlage gilt es,
tatkräftig sich einzusetzen und auch für den Leib zu sorgen, wie z.B. mit der
Gründung des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in der 1980er Jahren geschah, um den
Flüchtlingen aus Vietnam zu helfen, den sogenannten „boat-people“.
Den Jesuiten ist im letzten
Jahrhundert immer mehr klar geworden: Vielfach braucht es überhaupt erst eine
materielle Grundlage, um sich um geistliche Dinge kümmern zu können. Es braucht
das Engagement für Glaube und Gerechtigkeit, für Kultur und Dialog. Den Seelen
helfen, das hat oft ganz verschiedene Dimensionen.
Aber trotzdem gilt: Das Augenmerk
der Jesuiten soll weiterhin darauf liegen, den Menschen so zu helfen, dass sie
sich selbst helfen können, d.h. auch immer die geistliche Dimension im Blick zu
haben - und „den Seelen zu helfen“.
Sie sollen also das
zielgerichtete, wirksame, rationale Handeln und die spirituelle Dimension in
ihrem Tun miteiandern verbinden, ganz so, wie es das Evangelium es heute
beschreibt:
Wenn jemand ein Gebäude errichten
will, dann betet er nicht zuerst, sondern er rechnet und überlegt er sich, ob
seine Mittel reichen, ob er den Bau auch zu Ende bringen kann. Und wenn jemand
in eine Auseinandersetzung geht, dann betet er nicht zuerst und sucht nach
göttlichen Zeichen, sondern er überlegt sich, ob die Kräfte reichen bzw. ob es
nicht bessere, z.B. versöhnlichere Alternativen gibt.
Es gibt viele Dinge im Leben, die
brauchen unser zielgerichtetes, rationales Handeln, so wie wir es überall
lernen und studieren können bzw. so wie uns die Gesellschaft und der
Kapitalismus erziehen. Es ist nicht alles schlecht.
Aber in den entscheidenden Dingen
unseres Lebens, in den Fragen nach Sinn und nach Liebe, und wofür ich bereit
bin, zu leben, da braucht es auch eine andere Dimension. Wir sollen beides
nutzen in der Nachfolge, unsere Spiritualität und unsere Rationalität, in aller
Freiheit. Denn wir sind Menschen mit Leib und Seele. Amen.